Die Fäden der Menschen

für Rita

Markttag

Marie ist heute früh in die Stadt gefahren, um auf den Markt zu gehen. Sie liebt die Ruhe am Morgen, wenn die Feuchte der Nacht noch in der Luft hängt und die prall gefüllten Marktstände auf sie warten, mit einer Verheißung auf ein geschäftiges Treiben später am Tag.
Sie steigt aus der Straßenbahn, atmet tief ein und schlendert gedankenverloren in Richtung Marktplatz. Die Blüten der Bäume und Blumen tränken die Luft verschwenderisch mit betörenden Aromen. Die Sonne scheint ihr ins Gesicht. Marie genießt die warmen Strahlen, die Boten des Frühlings leuchten durch das zarte Grün der Blätter.

In Gedanken geht sie ihre Einkaufsliste durch: Schwarze Oliven in Knoblauchöl, Salat, etwas Gemüse und mal schauen, was es an Obst gibt. Vielleicht ein paar frühe Kartoffeln und Spargel. Ihr Mann Herbert isst gerne das weiße Gold und langsam wird es bezahlbar.

Auf dem Boden vor Marie liegt ein roter Faden, dick wie ein kleiner Finger. Er zieht sich in Richtung Markt. Sie wundert sich: „Wo kommt denn dieses Seil her? Bestimmt war gestern eine Veranstaltung und es wurde nicht weggeräumt. Seltsam, die Stadt ist doch sonst so hinterher, dass alles ordentlich ist.“
Einige Schritte weiter sind es schon 4 Fäden. Zwei Grüne sind aus einer Seitengasse gekommen und ein breites Geschenkband aus Stoff mit Sternenmuster hat seinen Anfang in nächsten Hauseingang. Alle laufen in Richtung Marktplatz.

Marie folgt ihnen, passiert die Eisdiele und das Haushaltswarengeschäft. An der Bushaltestelle vor dem Marktplatz liegen schon zwei Dutzend Fäden: Straff gespannte, neben eher locker hingeworfenen, schmuckvolle und langweilige, düstere und leuchtende, breite und schmale. Die meisten davon streben in Richtung Markt.
Marie bleibt stehen und grübelt: „Ist heute irgendetwas besonders? Verkaufsoffener Sonntag ist erst nächste Woche, Oster ist vorbei. Sind die Fäden eine neue Marketing-Aktion der Stadt? Der neue Citymanager soll sehr umtriebig sein, wie man hört.“

Marie läuft in die gleiche Richtung wie die Seile auf dem Boden: „Ich folge den Fäden nicht. Ich habe nur zufällig einen ähnlichen Weg“, redet sie sich ein. Selbstredend ist sie voller Neugier, würde das aber vehement abstreiten, falls es jemand bemerken sollte.

Etwas ist seltsam

Der Markt ist immer gleich aufgebaut und nimmt seinen Anfang mit dem unvermeidlichen Blumenstand. Marie wirft einen Blick auf die Pflanzen, seufzt und wünscht sich, dass ihr Herbert mal wieder Blumen für sie kaufen würde. Drei Marktbuden hinter dem Blumenladen kommt der Stand mit griechischen Spezialitäten. Sie steht davor und betrachtet die Auslage. Viele verschiedene Oliven in Öl, dargeboten in Holzfässchen. Dazu kommen Fladenbrot und gewürzte Käsezubereitungen. Der Duft von Olivenöl und Knoblauch steigt Marie in die Nase. Ihr läuft das Wasser im Mund zusammen. Am liebsten würde sie sich einmal durch die komplette Auswahl durchprobieren, aber das ist leider nicht erlaubt. „Schwarze Oliven in Knoblauch Öl“, so vermerkt es die Einkaufsliste, denn Herbert mag keine Überraschungen. Es ist das zweite Fass von links in der mittleren Reihe. Dort steht es immer. Auch hier gibt es keine Überraschungen.
Die Verkäuferin begrüßt sie: „Hallo Frau Schmidt, wie geht es Ihnen. Was darf es sein?“ Marie reagiert nicht sofort. Sie hat aus den Augenwinkeln ein wirres Kuddelmuddel an Fäden hinter dem Stand entdeckt und irritierenderweise scheinen sie der Bedienung zu folgen. Wenn die Frau sich bewegt, gibt es Unruhe am Boden.
„Möchten Sie wie immer die Schwarzen mit Knoblauch?“ fragt sie, um die Gesprächslücke zu füllen. Marie nickt bescheiden und ein Plastikschälchen wird von geübter Hand mit Oliven gefüllt: „Ich habe Ihnen wenig von dem Öl dazugetan. So wie sie es gerne mögen. Darfs noch etwas sein?“
Marie antwortet nicht, weil sie immer so abgelenkt vom Gewimmel hinter dem Stand ist und die Marktfrau ist irritiert: „Frau Schmidt, geht es Ihnen heute Morgen nicht gut? Sie wirken etwas blass.“
Marie hebt verunsichert eine zittrige Hand, deutet hinter den Stand und murmelt: „Schwarze Fäden.“
Die Verkäuferin stutzt einen Moment, schaut auf ihre Auslage und ihr Gesicht hellt sich auf: „Ja Frau Schmidt, sie haben völlig recht. Wir haben eine neue Sorte hereinbekommen. Gefüllte schwarze Oliven in mediterranen Kräutern. Möchten Sie einmal probieren?“ Ohne eine Antwort abzuwarten, füllt sie eine kleine Holzschale mit einer Kostprobe und reicht sie Marie. Diese nimmt einen Zahnstocher, pickt vorsichtig eine aus der Schale und steckt sie langsam in den Mund, den Blick fest auf die Fäden hinter dem Stand gerichtet.
Die Olive hat einen Hauch von Chili Schärfe und schmeckt köstlich nach Süden und Urlaub. Die Zunge beansprucht die ganze Aufmerksamkeit und so löst sich die Augen aus dem hier und jetzt und kehren zurück in vergangene Zeiten. Marie verspürt Salz, Sand und Meer auf ihrer Haut. Das Gefühl möchte sie mit nach Hause nehmen: „Ja bitte packen Sie mir ein Schälchen von diesen Oliven ein“, sagt sie zur Verkäuferin. Höchstwahrscheinlich mault Herbert, aber das hier ist ihr persönlicher kleiner Luxus.

Sie bezahlt, packt ihre Einkäufe in ihren Korb und wendet sich ab. Kurz zögert sie, ob sie die Frau hinter der Theke darauf ansprechen soll, entscheidet sich dann aber dagegen.
Marie dreht sich um und nimmt den Faden wieder auf: Nächstes Ziel ist der Stand vom Landgut Immerschön. Die haben das beste Gemüse.

Eine Mitwisserin

Während ihres Aufenthalts am Olivenstand sind weitere Fäden dazugekommen. Sie verteilen sich in wilden Mustern auf dem ganzen Marktplatz. Eine laufen schnurgerade, andere schlagen Haken, winden sich, bilden Kreise. Marie überlegt: „Es sieht fast so aus, als ob die Fäden Spuren darstellen, die jeder Mensch beim Gang über den Markt hinterlassen hat. Ob ich auch so eine Spur ziehe?“ Sie schaut hinter sich. Da liegen viele Fäden und Bänder. Schwierig einen Speziellen herauszufinden, aber da ist er: Klebt direkt an ihrem Schuh. Marie läuft einen kleinen Kreis, die Augen fest auf den Boden gerichtet. Der Faden war bisher grün mit roten Sprenkeln, jetzt wird er knallrot, so als ob es ihm peinlich wäre entdeckt worden zu sein. Er windet sich unbehaglich unter ihrem Blick, folgt aber treu ihren Schritten. Es ist wahr: Jeder Mensch zieht hier seinen Faden.

Maries Aufmerksamkeit ist am Boden. Wenn das stimmt, dann sind hier heute Morgen schon – sie zählt konzentriert – … zwölf … siebzehn … dreiundzwanzig Menschen vorbeigelaufen. Sie sieht die Spuren die Unbekannte hier gelegt haben und es fühlt sich an wie ein Eindringen in die Privatsphäre dieser Personen. Wer ist hier vorbei gekommen? Sie weiß nichts über die Spurenleger, weder Aussehen, noch Größe oder Alter. Warten sie in Eile oder hatten sie Zeit. Was war ihr Ziel? Sie kennt nur Struktur und Farbe der Gebilde: breit und flach, rund, geflochten oder gedreht, eintönig grau oder glitzernd bunt.
Sie wandert weiter zum Stand mit dem Gemüse. Die Fäden unter ihren Füßen fühlen sich weich und uneben an.
„Hallo Marie“, grüßt Tina Wolfshagen vom Landgut Immerschön. Die beiden sind Freundinnen seit dem Kindergarten und deswegen kommt Marie gerne hier her.
„Was darf es heute für dich sein? Waren die Gurken letzte Woche gut und hat euch der Blumenkohl geschmeckt?“
Marie grübelt: „Ich würde gerne wissen, ob sie die Fäden sieht oder ob das nur meine Wahrnehmung ist. Wie kann ich das herausfinden, ohne dass sie mich für verrückt hält?“
Laut sagt sie: „Kommt dir der Marktplatz heute bunter vor?“
Die Angesprochene schaut unschlüssig von links nach rechts und meint: „Nein wieso? Die Marktstände sehen aus wie immer. Was genau meinst du?“
Maries senkt ihren Blick zum Kopfsteinpflaster und ihre Freundin folgt: „Seltsam, da liegen ganz viele bunte Stricke und Bänder auf dem Boden. Die waren heute Morgen beim Stand aufbauen noch nicht da.“ Tina schüttelt den Kopf: „Das wäre mir aufgefallen, oder?“ Ein Selbstzweifel durchzieht den letzten Satz, doch Tinas unerschütterliches Gemüt bekommt wieder Oberhand: „Vielleicht hat die Stadt eine Kunstinstallation machen lassen. Die kommen ständig auf neue Ideen. Aber lassen wir das. Was kann ich dir heute Gutes tun?“ Marie schaut auf ihre Liste: „Ich brauche bitte einen Kopf Salat, einige Tomaten und hast du schon Spargel?“
Tina hat eine flache Schüssel und füllt sie mit dem gewünschten Gemüse. Dann sagt sie: „Ja wir haben Spargel für 12€ das Kilo und auch Erdbeeren. Wieviel soll ich dir einpacken?“
„Bitte 14 Stangen Spargel, die mitteldicken und ein Schälchen Erdbeeren“, lächelt Marie, „Das war´s dann für heute“. Der Einkauf wird gemütlich im Korb verstaut und bezahlt. Nebenbei halten die beiden ein Schwätzchen über die Familie und das Leben.

Ein Rüpel drängt Marie weg: „Jetzt stellen sie hier mal den Kaffeeklatsch ein, ich habe es eilig“.
Die Temperatur fällt um gefühlte 20°. Die Freundinnen mustern den Eindringling eiskalt. Er hat eine Lederjacke mit Schmucknieten an, ein schwarzes Hemd mit Glitzereffekt und eine stahlblaue Jeans. Die obersten beiden Knöpfe sind offen, man sieht das Brusthaar-Toupet und eine Sonnenbrille steckt im Ausschnitt.
Marie weicht einen Schritt zu Seite und schaut nach unten. Der Kerl zieht eine Art roten Teppich hinter sich her. Darüber wandeln die echten Stars bei einer Oscarverleihung. Sein Exemplar hingegen ist nur 30 cm breit, arg zerschlissen und löchrig: ein Möchtegern Promi, ein Wichtigtuer.
Tina behandelt den Maulhelden mit professioneller Marktfrau Attitüde. Sie verkauft ihm die verlangten 3 Mangos und der Bursche stolziert davon. Marie löst ihren Blick vom Boden: „So ein eingebildeter Angeber. Hast du seinen Miniatur-Roten-Teppich gesehen?“
Einen Augenblick starrt die Angesprochene nur, dann kichern beide Frauen. Die Anspannung löst sich in einem lauten Lachen und der Gernegroß schaut sich irritiert nach ihnen um.
Menschen halten es nicht aus, wenn hinter ihrem Rücken gelacht wird, weil sie glauben sie wären der Witz. In diesem Fall stimmt es, denn der Faden hat mehr erzählt, wie seinem Träger lieb sein kann.

Marie verabschiedet sich von Tina und schlendert weiter. Sie überlegt: „Wenn ich heute Spargel machen will brauche ich dazu noch guten Schinken und ich weiß wo ich den bekomme. Dazu muss ich durch die Schaftsgasse laufen, denn auf dem Brunnenplatz stehen die Metzgerwagen.“

Wer hätte das gedacht?

Marie achtet jetzt deutlich mehr auf die Fäden und versucht herauszufinden, zu wem sie gehören. Der Boden unter ihren Füßen ist schon merklich weicher geraten. Viele Bänder liegen herum und es wird immer schwieriger einzelne zu identifizieren.
Vor ihr läuft etwas gebückt eine alte, grauhaarige Frau, die einen Einkaufstrolley hinter sich herzieht. Marie hat einen grauen langweiligen Faden erwartet, aber die Dame vor ihr hinterlässt ein glitzerndes Tischband.
Marie überlegt: „Die Fäden zeigen eher die Stimmung, als den körperlichen Zustand, und diese Frau bekommt vielleicht heute noch Besuch. Ob sie Geburtstag feiert?“ Ein weiterer Gedanke schleicht in ihren Kopf: „Das Tischband sieht sehr dekorativ aus. Ich nehme mir etwas davon mit nach Hause.“
Sie bückt sich und versucht es greifen, aber ihre Finger fassen ins Leere. Obwohl ihre Füße das Material genau spüren, dürfen die Hände es nicht aufheben. Sie probiert mit dem Fuß darunter  zu kommen, auch das funktioniert nicht. Die Fäden wirken, als wären sie auf den Boden aufgetragen wie eine Lackschicht. Marie ist enttäuscht und denkt: „Wenn ich diese Schönheit nicht mitnehmen kann, mache ich wenigstens ein Foto um mich an das Muster zu erinnern. Vielleicht kann ich etwas Ähnliches später online bestellen.“ Sie zieht ihr Handy heraus, aktiviert die Kamera und richtet sie auf den Boden. Wieder eine Enttäuschung denn das Gerät behauptet steif und fest, dass hier nur der normale Marktplatzboden zu sehen sei. Gleichzeitig sieht Marie auf dem Bild, dass ihre Füße etwa 10 cm über dem Pflaster schweben. Das ist ungefähr die Dicke der textilen Masse auf der sie steht.
Jetzt ist Marie vollständig verwirrt: „Gibt es die Fäden oder nicht? Bildet sie sich das alles nur ein? Merken die andern Marktbesucher nichts? Zum Glück hat Tina die bunte Erscheinung ebenfalls gesehen. Sonst wäre ich am Montag auf dem Weg zum Kopfdoktor.“

Sie steht einen Moment unschlüssig herum, dann fällt ihr der Schinken ein und sie läuft weiter in Richtung Schaftsgasse, die zum Brunnenplatz führt. Vor ihr laufen drei Jugendliche und hinterlassen dabei etwas das aussieht wie USB-Kabel, in regelmäßigen Abständen unterbrochen durch Powerbanks, deren LEDs hektisch flackern. Alle haben ihr Mobiltelefon in der Hand und den Blick auf das Display gesenkt.
„Die bekommen zum Glück nichts mit, wenn sie nur in das Handy starren“, denkt Marie.
Auf dem weitläufigen Marktplatz waren die Fäden nur wenige Zentimeter hoch, doch in der schmalen Gasse stapeln sie sich bis zu einem Meter Höhe. Der Boden unter ihren Füßen wird immer weicher und gummiartiger. Es ist fast wie auf einem Trampolin. Probeweise hüpft sie einmal kurz und grinst breit: „Das fühlt sich an wie auf einer Hüpfburg auf dem Jahrmarkt“. Ihr Hüpfer hat die Masse unter ihr in Unruhe gebracht und wie eine Welle breitet sich der Impuls aus. Die drei Jugendlichen vor ihr werden ebenso angehoben wie die anderen Menschen in der Schaftsgasse. „Dicker! Stump mich net!“ entfährt es einem der Jungs und er boxt seinen Kumpel. Marie grinst noch breiter und wiederholt den Hüpfer mit mehr Schwung. Wieder eine Welle. Alle Leute in der Gasse schauen irritiert. Einige halten sich an den Hauswänden fest. Eine Frau schreit entsetzt: „Das war bestimmt ein Erdbeben!“ Der zweite Halbstarke sagt zu seinem Kumpel: „Alter, krasses Erdbeben, was kann ich dafür! Stump dich selber!“ Dann boxt er ihn zurück.

Marie freut sich über das Spiel und springt ein drittes Mal kräftig in die Luft. Für einen Moment scheinen die Menschen in der Gasse wie versteinert. Sie haben etwas gespürt, doch keiner erkennt, was genau passiert ist. Es wundert niemanden, dass sie fast einen Meter hoch in der Luft schweben, denn so dick stapeln sich die Fäden hier. Es kann nicht sein, was nicht sein darf. Ein Erdbeben erscheint in diesem Moment deutlich plausibler, zumal die Stadt dicht an einem tektonischen Spalt liegt und dort häufiger Erschütterungen auftreten.
Mit der Erkenntnis kommt die Panik. Alle rennen los, Männer und Frauen, die drei Teenager, Mütter mit Kinderwagen. Es ist ein Tohuwabohu! Die Leute haben nur einen Gedanken: „Raus aus der Gasse, bevor ich von zusammenfallenden Gebäuden lebendig begraben werde.“
Marie sieht ihre Fäden. Sie schillern in den Farben der Angst und sind umgeben von kleinen Wölkchen aus Panik mit Blitzen darin.

Die Wissende grinst unverschämt glücklich, während sie freudig durch die jetzt leere Gasse hüpft und tanzt in Richtung der Metzger Stände auf dem Brunnenplatz.
So wie sich die schmale Passage der Weite öffnet, so wird das Geflecht breiter und die Panik zerfasert ähnlich schnell wie die Fäden, die sich wieder über den Platz verteilen.

Autsch!

Die Frau aus der Gasse hat auf dem Brunnenplatz eine Freundin getroffen und fragt außer Atem: „Hilde! Hast du das Erdbeben auch gespürt? Es war so furchterregend. Ich dachte gleich stürzen die Häuser ein.“ Die Angesprochene schaut sie zweifelnd an und sagt: „Ein Erdbeben? Nein, das hätte ich gemerkt. Beruhig dich erstmal Claudia und dann erzählst du mir der Reihe nach was passiert ist.“ Atemlos stößt diese hervor: „Der Boden unter meinen Füßen hat sich bewegt: Drei Mal kamen die Stöße wie in Wellen. Alle habe es gespürt und sind in Panik aus der Gasse gerannt.“
Hilde schüttelt bedächtig den Kopf: „Nein hier war nichts.“ Sie überlegt weiter: „Ich habe eben ein leichtes Kribbeln in den Füßen gespürt, aber mir nichts dabei gedacht. Du weißt ja, kaum ist man über 30 kommen die Zipperlein.“ Sie lacht verlegen.

Eine überwältigende Welle der Angst brodelt immer noch tief in Claudia. Ihr Herz schlägt so heftig und unaufhörlich, dass sie den Eindruck hat, es könnte sein jeden Moment aus ihrer Brust springen. Das Adrenalin zirkuliert in ihrem Blut und hält die Muskeln angespannt. Ihre innere Anspannung ist kaum zu kontrollieren. Der Kopf will nicht klar denken, doch ihr Körper hat die wellenartigen Stöße verspürt! Das hat sie bis ins Mark erschüttert und Hilde glaubt ihr nicht!

Marie schlendert gelassen an den beiden Freundinnen vorbei. Claudia sieht sie und reagiert sofort: „Hallo! Sie waren doch eben auch in der Schaftsgasse. Haben Sie das Erdbeben auch gespürt? Sie müssen es gespürt haben! Alle sind in Panik davongerannt!“
Marie fokussiert ihre Aufmerksamkeit erneut auf Claudias Faden. Dieser sondert weiterhin so viele Panikwölkchen ab, dass seine Erzeugerin in einem dichten Bodennebel steht. Das Ganze sieht aus, wie eine Disco in der es ein DJ mit der Nebelmaschine übertreibt.
Dann schaut sie wieder hoch und Claudia direkt in die Augen. Mit erstem Gesicht beteuert sie: „Ein Erdbeben? Nein. Maximal ein leichtes Kribbeln in den Füßen.“ Das sagt sie extra, um die panische Frau zu verunsichern, denn sie hat den letzten Satz von Hilde mitgehört.
Wie erwartet zucken im Bodennebel um Claudias Schuhe Blitze des Ärgers. Ihr Faden windet sich wild hin und her wie ein gefangenes Wiesel, dem es an den Kragen gehen soll. Ihre Hände öffnen und schließen sich krampfhaft. Ihre innere Anspannung ist selbst für Marie greifbar.

Claudia ist völlig geschockt. Heute werden bei ihr alle Rekorde für Adrenalin im Blut gebrochen. In ihrem Kopf hämmert es: „Wie kann das sein? Es war so real: Die wackelnden Wände, der Boden hob und senkte sich, die Welt verschwamm! Jetzt behaupten diese Menschen um sie herum, da war nichts!“ Sie will sofort explodieren! Die Brust soll aufspringen und das wilde Herz frei lassen. Dann löst sich ihre Anspannung in einem Schrei: „Ich bin nicht verrückt!“ und sie bricht heulend zusammen. Unter vielen Schluchzern hören Marie und Hilde ein leises Wimmern: „Ich bin nicht verrückt, oder?“

Die beiden Frauen sehen sich in die Augen. Ein fragender Blick begegnet einem peinlich berührten Gesichtsausdruck. Scham und Verlegenheit steigen in Marie empor und ihr wird heiß: „Das habe ich nicht gewollt. Es war nur ein harmloser Spaß für mich, die Trödler in der Gasse etwas zu scheuchen.“ Sie lässt ihre Schultern hängen und wünscht sich direkt im Erdboden versinken: „Was habe ich nur angerichtet?“
Hildes Blick ruht auf ihr. Die Augen stellen die Frage, die sie den Lippen nicht abverlangt.
Marie zögert und überlegt: „Ich habe die Verpflichtung das hier wieder in Ordnung bringen. Aber leicht wird es nicht. Wie soll ich Hilde erklären was passiert ist, wenn sie die Fäden nicht sieht?“
Dann gibt sie sich einen Ruck, zeigt mit der Hand in Richtung Kopfsteinpflaster und flüstert: „Fäden!“ Hilde schaut vorsichtig nach unten in der festen Erwartung einer hereinbrechenden Katastrophe. Sie erblickt das bunte Gewirr aus diversen Bändern, Fäden, Schleifen und Kabeln. Eine Weile starrt sie in Agonie auf den Bodenbelag, dann hebt sich ihr Blick und sie bemerkt, wie dick die Schicht aus unterschiedlichen Stoffen in der schmalen Schaftsgasse liegt.
Marie flüstert: „Das ist wie eine Hüpfburg. Es war kein Erdbeben.“

Gemeinsam richten sie Claudia wieder auf. Hilde nimmt die Ärmste an der Hand, zeigt ihr den seltsamen Bodenbelag und führt sie zurück in die Gasse. Die ersten Schritte sind haltlos und wackelig, aber die Panik ist abgeklungen.
Marie sieht wie die beiden flüsternd in Halbdunkel der Passage verschwinden. Oben auf dem Stoffberg fangen sie an zu hüpfen. Erst zaghaft, dann immer wilder.

Der dritte Stand

Während die beiden ausgelassen springen und toben wendet sich Marie ab und folgt ihrem Weg zum Wagen der Bio-Metzgerei Schrödinger. Dort ist – wie jeden Samstag – eine lange Schlange an der Imbiss-Kasse und eine kurze Reihe an der normalen Theke.

„Das Frühstück auf dem Markt wird immer mehr zum Event“, denkt sie und mustert dabei die Auslage. Bevor sie erfasst, welche Köstlichkeiten an diesem Morgen im Angebot sind, wird sie von einer Verkäuferin aus ihren Gedanken gerissen: „Was darf´s für Sie sein?“.
Marie schaut hoch und fragt: „Haben Sie heute den leckeren Kochschinken mit Wachholderkruste dabei?“ Die Frau mustert ihrerseits prüfend das Wurstangebot und sagt: „Da müsste ich erst in die Kühlung schauen.“ Sie bückt sich und zieht eine Schublade auf und schreckt zurück: „Huch! Da ist ja eine Katze drin! Aber ist sie tot oder lebendig?“
Gleich darauf ertönt ein lautes Fauchen hinter der Theke. Dieses Exemplar ist offensichtlich am Leben und sehr sauer. Der Aufenthalt neben der gekühlten, abgepackten Wurst hat ihr nicht gefallen.
Die Metzgersfrau hat bis eben einen anderen Kunden bedient und kommt jetzt herbeigeeilt und nimmt die Katze liebevoll aus der Lade: „Maunzerle, wie kommst du denn da hinein?“. Auf den fragenden Blick der Verkäuferin erklärt sie: „Das ist unsere Hofkatze. Wahrscheinlich stand die Schublade offen und der Wagen war warm von der Sonne. Ich muss sie übersehen haben beim Einladen heute Morgen.“ Sie krault die Katze liebvoll, die ihr zum Dank die Krallen in den Arm bohrt: „Was mach ich mit dir? So kann ich unsere Kundschaft nicht bedienen, die möchten keine Katzenhaare an ihrer Wurst.“ Sie steht einen Moment unschlüssig herum, dann greift sie eine leere Brötchenkiste, legt ein Handtuch hinein und etwas Leckeres aus der Theke. Die Katze wird vorsichtig in das so präparierte Körbchen gesetzt und lässt es sich schmecken.

Nach dem kleinen Intermezzo ist die Verkäuferin aufs Neue voll bei Maries Bestellung. Sie bückt sich ein weiteres Mal und kommt mit einem großen Stück des herrlichen Wachholderschinkens wieder hervor. Zu ihrer Kundin gewandt fragt sie: „Wie viel darf ich Ihnen abschneiden?“, und diese antwortet prompt: „Bitte 8 Scheiben, ruhig etwas dicker geschnitten“.
Die Frau hinter der Theke schneidet mit geübten Bewegungen die Scheiben ab und packt sie ein. „Darf es noch etwas sein?“ Marie entgegnet lächelnd: „Nein vielen Dank. Für heute habe ich alles.“ Sie legt das Päckchen Wurst in ihren Korb, bezahlt und macht dem nächsten Kunden Platz.

Etwas Normalität

Der Rückweg führt Marie wieder durch die Schaftsgasse. Diesmal bewegt sie sich extrem vorsichtig über die wabbelnde, gummiartige Masse. Das Drama mit Claudia und Hilde vorhin hat sie emotional heftig durchgeschüttelt. Die beiden sind jetzt nicht mehr zu sehen und ihre Fäden sind in diesem Durcheinander ebenfalls nicht zu finden.

Auf dem Marktplatz ist die Sammlung der Fasern weiter angewachsen. Alle Menschen bewegen sich heute langsamer als gewöhnlich. Marie beobachtet das Geschehen aus einer friedlichen Ecke und überlegt. „Die Leute sehen sie vermutlich nicht, aber sie spüren etwas. Ich würde gerne wissen, wie es weiter geht. Die Fäden werden sich immer weiter auftürmen.“

Das Café am Marktplatz kommt Marie wie gerufen. Sie sucht sich einen Platz in der Sonne vor dem Haus und gönnt sich einen Milchkaffee und ein Stück Kuchen.
Der Markt wird zunehmend wabbeliger. Die textile Masse hebt nicht nur Marktbesucher, sondern auch Tische, Sonnenschirme und Vorratskästen mit an. Die Szene könnte genauso gut auf einem See stattfinden, über den eine Plane gezogen wurd: Nichts und niemand versinkt, aber weder Mensch noch Ding finden einen festen Stand.
Marie sieht, wie die Leute Gruppen bilden, sich aneinander festklammern und gegenseitig stützen. Die Marktstände werden zu rettenden Inseln auf denen Marktschirme träge im Wind schwanken, wie Palmen auf einer einsamen Südsee Insel.

Die große Kirche neben dem Markt läutet den Mittag ein. Mit dem ersten der 12 Glockenschläge beginnen die Fäden sich zu verflüssigen. Sie fließen langsam über die Pflastersteine in die Kanalisation. Marktbesucher, Stände und Sonnenschirme werden unmerklich sanft abgesetzt auf dem Kopfsteinpflaster.

Der letzte Ton der alten Glocke verklingt und der Markt sieht wieder so langweilig aus wie an jedem anderen Tag im Jahr. Nur in den Erinnerungen von Marie und ihren wenigen Mitwisserinnen wird dieser Morgen für immer etwas Besonderes bleiben.

Dieser Beitrag wurde unter Laenger, Main veröffentlicht. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert