Kreatives Schreiben: Eine unerwartete Begegnung

für Thomas, dem ich ein sehr besonderes Erlebnis verdanke

Es ist ein trüber Novemberabend im Jahr 1888. Ich habe endlich Feierabend. Der Tag auf dem Kutschbock war anstrengend. Jetzt sitze ich in meinem Lieblingspub an der Theke und lasse das Bier die ausgetrocknete Kehle herunterlaufen. Der Pub ist voll, viele wollen noch schnell den Feierabenddurst löschen vor der Sperrstunde. John und Charles sitzen links und rechts neben mir, wie jeden Abend.
„So ein lausiges Wetter. Immer nur Nebel. Ein richtiger Regentag würde mal den Dreck von den Straßen spülen. Es stinkt widerlich.“ sagt John und hält die Nase lieber tief in sein Bierglas.
Charles flüstert von der anderen Seite: „Habt ihr diesen Kerl gesehen, da hinten in der Ecke. Der kommt mir irgendwie bekannt vor und er sieht verdächtig aus. Passt so überhaupt nicht hier her.“
Wie auf Kommando drehen sich unsere Köpfe und wir versuchen ein Blick auf den Kerl in der Ecke zu erhaschen, doch es will uns nicht gelingen. Die Leute im Pub stehen dicht gedrängt und verströmen dabei sehr menschliche Gerüche.
John und Charles stecken lieber den Kopf wieder in das Bierglas. Ich starre noch einen Augenblick lang auf die wabernde Menge. Da drängt ein wahrer Riese durch die Menge: „Lasst mich durch ich muss pissen“. Wie Moses den Ozean teilt er die Pubbesucher, eine Schneise öffnet sich. Durch die Schneise sehe ich den Mann und er sieht mich. Ein Blick genüg. Das Gesicht kenne ich aus der Zeitung: Sherlock Holmes, der Mann der unserer Polizei immer einen Schritt voraus ist. Dann ist bestimmt sein teuer Begleiter Watson nicht weit. Was treibt diese beiden ausgerechnet hier in unseren Pub?

Zeit für ein weiteres Bier. Der Tag war lang und der Durst ist immer groß. Der Riese kehrt vom Abort zurück wie ein Schiff das ausläuft zu neuen Abenteuern und in seinem Kielwasser folgt Sherlock Holmes. Er spricht John an: „Lieber Freund, würdet ihr mir diesen Platz überlassen?“. Die Stimme ist nicht laut, das muss sie auch nicht sein. John stürzt sein Bier hinunter, wirft einige Münzen auf den Tresen und rennt aus dem Pub.
Holmes lächelt kurz amüsiert und wird dann gleich wieder ernst. „Darf ich mich setzen?“ fragt er höflich, immer noch mit dieser leisen aber energischen Stimme, die ein Nein nicht als Antwort für möglich hält.

Er setzt sich und mustert mich. Sein Blick ruht auf mir und wendet sich nicht ab. Im Pub wird es lauter, aber er lässt sich nicht ablenken: „Sie sehen erschöpft aus, mein Freund“
Die Anspannung in mir wächst und meine Gedanken rasen: „Was will er von mir? Bin ich verdächtig? Warum könnte ich verdächtig sein? Was habe ich in den letzten Tagen gemacht? Wo war ich?“

Charles spürt die gleiche Anspannung und er scheint ein schlechtes Gewissen zu haben. Wie John trinkt er hastig aus, verschüttet das meiste von seinem Bier und flüchtet aus dem Pub. Wie aus dem nichts taucht Watson hinter mir auf und setzt sich auf den freien Stuhl. ich nehme ihn aus dem Augenwinkel wahr.

Holmes hat seinen Blick nicht eine Sekunde abgewandt. Er wiederholt sich: „Sie sehen erschöpft aus.“
Meine Unruhe wächst. Alles in mir schreit nach Flucht. Aber das würde mich erst recht verdächtig machen, oder? Wer flieht hat einen Grund dazu.

Holmes sagt: „Sie haben sehr bemerkenswerte Augenbrauen.“
Ich zucke zusammen. Meine Augenbrauen? Wieso interessiert sich der Kerl jetzt für meine Augenbrauen. Sehe ich jemand auf einem Fahndungsplakat ähnlich? Was zur Hölle passiert hier? Mein Magen fängt an zu kribbeln und mir wird heiß. Wenn das so weiter geht habe ich im Bauch gleich Dampfbier.

Holmes sagt: „Ihre Lippen haben sich gekräuselt.“
Augenbrauen? Lippen? Ihm entgeht nichts. Jede kleinste Bewegung wird beobachtet und analysiert. Fühlt sich so eine Ameise unter einem Mikroskop? Ich werde klein, warte auf den brennenden Blitz der meinem Leben hier und jetzt direkt ein Ende bereitet.
Ein stämmiger Kerl rempelt Holmes an und verlangt vom Barmann ein frisches Bier. Holmes lässt sich nicht aus der Ruhe bringen. Er streicht mit der Hand ein imaginäres Stäubchen von der Schulter. Sein Gesicht hat sich nicht bewegt, sein Blick bleibt auf mir haften.

Holmes sagt: „Sie haben ein sehr markantes Kinn.“
Der Blitz lässt auf sich warten und eine passende Spalte im Erdboden findet sich auch nicht. Ich sitze weiterhin hier, kann nicht verschwinden und bleibe von diesem Blick durchdrungen bis ins tiefste Innere. Was will er nur von mir? Sein Gesicht zeigt ein Pokerface und sein Mund spricht scheinbar belanglose Worte. Aber das kann nicht sein: Er ist Sherlock Holmes und garantiert auf heißer Spur.

Holmes sagt: „Sie haben da ein nervöses Zucken auf der Wange.“
Nervös! Ich? Meine Stimme gerinnt zu einem Quicken in meinem Kopf. Meine Großmutter kommt mir in den Kopf. Wie sie vor mir stand in der Kittelschürze, riesengroß, ein Nudelholz in der Hand und mit einem Blick der sagte: „Du hast etwas angestellt und ich weiß es!“. Die heiße Schuld arbeitet in meinem Magen. Damals ging es nur um Bonbons, worum geht es hier?

Holmes sagt: „Sie sehen wirklich erschöpft aus.“
Das wars! Ich halte es nicht mehr aus. Nur weg hier, alles in mir schreit nach Flucht. Aus dem Pub auf Straße wäre zu auffällig und zu schwierig wegen der Menge, aber der Abort ist brauchbares Ziel. Ich rutsche vom Stuhl, murmele etwas Unverständliches und dränge durch die Menge. Holmes Blick folgt mir und brennt in meinem Rücken. Ich bekomme eine Gänsehaut. Würden mir die vier Reiter der Apokalypse mit flammenden Schwertern durch den Pub zum Abort folgen, wäre das angenehmer als dieser Blick. Die Menge verschluckt mich, ich spüre ihre Wärme, der Geruch nach Menschen und Bier lullt mich ein. Unser Schweiß vermischt sich und tropft auf den Boden um dort dem verschütteten Bier Gesellschaft zu leisten.

Holmes sagt: „Watson, das ist unser Mann.“
Puuhh, endlich! Meine Knie sind weich. Mit letzter Kraft erreiche ich den Abort, ziehe schnell die Hose runter und lasse der Natur ihren Lauf. Die Anspannung entweicht.
Der Abort steht im Hinterhof vom Pub. Die kalte Luft klärt meine Gedanken: „Wollen doch mal sehen wie schlau Sherlock Holmes wirklich ist.“ Ich weiß, dass es einen direkten Weg aus dem Hinterhof auf die Straße gibt, ohne den Pub nochmal zu betreten.
Gesagt, getan. Der Hinterhof präsentiert sich leer und verlassen. Er spendiert – trotz oder wegen der späten Stunde – großzügige Schatten durch die ich ungesehen nach draußen auf die Straße schleiche. Nur noch schnell um die Ecke, auf den Karren und nach Hause. Den Wirt kann ich beim nächsten Mal bezahlen, der kennt das schon und nimmt es nicht krumm.

Holmes sagt: „Schauen sie Watson: Das ist ein sehr stabiler Karren.“
Ich schrecke zurück. Verdammt. Wie sind die beiden so schnell aus dem Pub gekommen? Woher wissen sie, dass genau dieser Karren zu mir gehört. Die ganze Straße steht voll mit Karren und Kutschen, es hätte jeder sein können. Die alte Liese steht brav mit gesenktem Kopf vor dem Karren, die Zügel angebunden an einen Pflock. Sie hat mich längst gewittert, hebt den Kopf leicht und schaut erwartungsvoll zu mir herüber. Ich kann sie nicht alleine lassen. Sie möchte in den Stall aufs Stroh und ich ins Bett. Aber da stehen Sherlock Holmes und Watson und inspizieren meinen Karren auf das genaueste.

Holmes sagt: „Mein Freund, Sie haben uns ungebührlich lange warten lassen“
Ich gebe auf und komme aus den Schatten hervor. Egal was jetzt kommt, ich werde es geschehen lassen, denn in mir ist keine Kraft zur Gegenwehr. Einige schnelle Schritte bringen mich zu meinem Pferd Liese. Ich tätschele ihr den Hals und sie schmiegt ihren Kopf an meine Schulter. Es ist ein inniger, warmer, intimer Moment auf offener Straße im kalten Nebel.

Ich sage: „Wie kann ich zu Diensten sein, edle Herren?“
Unwillkürlich gehen die Hände etwas nach vorne. Ich kann die Handschellen schon spüren, höre das mechanische Klicken, fühle den Knüppel der herbeigeeilten Polizei auf dem Kopf.
Nichts davon geschieht wirklich. Holmes steht einfach da und sagt: „Ich habe einige größere Kisten die vom Hafen zu meinem Haus gebracht werden müssen und Sie scheinen mir der Richtige dafür. Wir treffen uns morgen früh um zehn Uhr an Pier 49. Seien sie bitte pünktlich“. Dann dreht er sich um und verschwindet im Nebel. Watson folgt ihm.

Die Wirbel im Nebel lösen sich langsam auf.

Dieser Beitrag wurde unter Kreativ veröffentlicht. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert