1. Ankunft
„Das war eine ganz blöde Idee“, ärgert sich Sophia. Zu Hause in Frankfurt klang der Vorschlag ihrer besten Freundin Britta vielversprechend. Einen Bildungsurlaub nutzen, um der Schriftsteller-Karriere den nötigen Schub zu geben und den inneren Kritiker auszutricksen.
Jetzt steht Sophia vor dem Kloster St. Martin in Bernried am Starnberger See. Sie ist müde und verschwitzt von der langatmigen Zugfahrt und dem Fußweg durch den Ort.
Das Kloster ist ein funktionaler Zweckbau aus einem längst vergessenen Jahrhundert, hübsch gelb gestrichen, gut erhalten, idyllisch eingerahmt von alten Bäumen und bayrischer Landschaft.
Ihr Bauchgefühl meldet sich unerwartet: Das Gebäude ist umgeben von einer dezenten Aura aus Angst und Tod und sie spürt es bis in die Knochen. Das passt so gar nicht zu Sonnenschein und blühendem Hochsommer.
„Was läuft hier für ein Film?“ fragt sich Sophia. „Tatort, die Bergretter oder Rosamunde Pilcher?“
Sie müsste jetzt da rein gehen, die alte, stabile, knarzige Holztür aufdrücken, die Klosterpforte durchschreiten und dem Bildungsurlaub eine Chance geben. Aber etwas in ihr revoltiert, traut sich nicht, will weg, quengelt und jammert.
Sophia entscheidet, nicht auf ihr Bauchgefühl zu hören, nennt sich selbst in Gedanken einen Hasenfuß und betritt das Kloster. Gleich rechts ist der Empfang. Hinter der Glasscheibe sitze eine Angehörige der Klostergemeinschaft in standesgemäßer Kleidung. „Wow! Hier gibt es tatsächlich noch echte Nonnen“ denkt sie verwundert.
Sie zeige der Rezeptionistin ihre Buchungsbestätigung und bekommt direkt ihren Schlüssel, garniert mit einer Menge gutherziger Ratschläge und Hinweise. Das Zimmer ist leicht zu finden: Nach rechts, dann links, die Treppe hoch, wieder links und schon hat sie sich verlaufen. Sie steht fragend und ratlos im Flur, da kommt eine weitere Nonne vorbei, erkennt das Dilemma und führt sie auf dem kürzesten Weg in ihr Zimmer. Die Korridore riechen nach Bohnerwachs und altem Gemäuer. An der Wand hängen Bilder mit Sprüchen des Hl. St. Benedikt, die inspirierend wirken sollen.
Ihr Raum hat eine echte braune Holztür, so wie alle Zimmer auf diesem langen, dunklen Flur. Sie schiebt den Schlüssel ins Schloss. Er lässt sich leicht drehen.
„Ein echter Schlüssel für ein echtes Schloss“ denkt sie. „Nicht so wie die modernen Keycards mit den elektronischen Schlössern. Das ist noch echtes Handwerk, kein moderner Schnickschnack.“ Mit einem „Klack“ springt die Tür auf und sie betritt das Zimmer. Ein schneller Blick auf den kleinen Tisch mit Stuhl sowie das harte, schmale Bett und es wird klar: Dieser Raum vereint all den Luxus und Komfort, den man spontan mit dem Wort Kloster assoziiert. Zumindest hat jede Stube ihr eigenes Bad und alles ist gepflegt und sauber.
Sophia ist zeitig vor Ort: Der Bildungsurlaub beginnt offiziell erst mit dem Abendessen und jetzt ist früher Nachmittag. Sie verlässt das Zimmer, irrt durch das historische Gemäuer und findet schließlich den Ausgang. Von der Klosterpforte aus gibt es einen Weg direkt zum See. Kies knirscht bei jedem Schritt unter ihren Füßen. Die hohen alten Bäume spenden Schatten. Die Wiesen leuchten im saftigen Grün des Hochsommers.
Langsam schreitet Sophia ans Ufer. Der See liegt still vor ihr, völlig still, kaum ein Windzug. In der Ferne hört sie das fröhliche Zwitschern eines Vogels in den Ästen über ihr. Sie saugt die klare Luft in ihre Lungen, eine Prise Bergklima, ein Hauch vom Kräutergarten des Klosters. Tiefe Ruhe und Verbundenheit erfüllen Sophia. Sie lässt sich am Ufer auf einer Bank nieder und beschreibt in Gedanken, was vor ihr liegt, was in der Ferne auf sie wirkt und was sie erahnet. Die Gedanken fließen über den Stift auf den Bildungsurlaubsblock. Die Worte hallen in ihr, sie suchen einen Platz zum Andocken. Sophia nimmt diesen Moment tief in sich auf und wird eins mit dem See und seiner Umgebung. Verschiedene Gefühle regen sich in ihr und sie setzt den Stift erneut an und gleich wieder ab. Sie schafft es nicht, der innere Kritiker lässt es nicht zu. Verärgert packt sie das Schreibzeug zurück in die Tasche und denkt: „Hoffentlich hilft mir dieser Urlaub meinen inneren Kritiker zum Schweigen zu bringen.“
Sie löst die Schnallen ihrer Sandalen und berührt zaghaft mit den nackten Zehen die spiegelglatte Oberfläche: angenehm kühl. Sie fühlt sich wie rätselhaft angezogen und setzt vorsichtig einen Schritt in den See. Ein Kribbeln erfüllt sie. Die gleiche Anspannung wie bei jedem Wasser, was nicht aus der Flasche oder einem Wasserhahn kommt. Sie zögert. Eventuell noch einen kleinen Schritt weiter? Keine Strömung ist zu vernehmen, ihr Fuß gleitet geradezu schwerelos durch den Raum.
„Hey, magst du mit Schwimmen kommen? Du bist doch auch bei der Schreibreise dabei, oder?“ Der andere Teilnehmer grinst sie aufmunternd an. Sophia zögert. „Das Wetter ist doch heute herrlich, ich kann es kaum erwarten, mich in die Fluten zu werfen“ sagt er und zieht sein Shirt aus. „Ich …äh…muss zurück. Ich muss noch was erledigen – ich habe meine Taucherbrille vergessen“ stottert sie und schnappt sich zügig ihre Sandalen und ihre Tasche und läuft eiligen Schrittes auf das Klostertor zu, ohne einen Blick zurückzuwerfen.
Beim Abendessen hat Sophia sich wieder im Griff. Oberflächlichen Small Talk beherrscht sie wie keine andere. Hier ein Spruch, dort ein Witz und gern einen Schluck des bayrischen Gesundheitsnektares und schon herrscht eine ausgelassene Stimmung. Auch Daniel, der Teilnehmer vom See ist dabei und sie sind sich sofort sympathisch. „Besser niemals ohne Taucherbrille in die tiefen, dunklen deutschen Gewässer! Das habe ich mir unlängst zur Regel gemacht! Nessi wurde auch schon am Bodensee gesichtet! Die Gefahr lauert überall!“ spottet Sophia, um ihren ersten Eindruck etwas geradezubiegen. „Du hast allerdings echt was verpasst. Der See ist herrlich!“ Daniel lächelt und kleine Fältchen ziehen sich an den Rändern seiner markanten braunen Augen zusammen. Auch häufiges Lächeln markiert ein Gesicht.
Sophia strahlt: „Definitiv. Das muss selbst ich als See-Expertin zugeben! Ich habe da gerade so ein Projekt. Ich bereise alle deutschen Seen, die ersten 30 habe ich schon besichtigt.“
„Oha! Nicht schlecht! Und als wann gilt ein See als abgehakt?“
„Ich muss ihn einmal zu Fuß umrunden. Ich habe den Bildungsurlaub noch um ein paar Tage verlängert. Mich faszinieren Seen besonders in der Außenperspektive. Ich bin, ehrlich gesagt, gar nicht so eine Wasserratte. Und diese kühle Seeluft schlaucht immer ganz schön.“
Das Abendessen nimmt seinen Lauf, genau wie der Small Talk. Es sind die üblichen Fragen: Wer bist du? Warum bist du hier? Jetzt bloß nicht zu viel von sich selbst verraten und möglichst alles über die anderen herausfinden.
2. Namen und Geschichten
Nach dem Abendessen startet der Kurs und – ja genau – er beginnt wie jeder Kurs: Die Teilnehmer basteln sich ein Namensschild, dann kommt die unvermeidliche Vorstellungsrunde und – wie üblich – das Flipchart, auf dem die Erwartungen an die folgenden Tage aufgeschrieben werden. So weit, so vorhersehbar.
Die erste Aufgabe überrascht Sophia total. Jeder soll einen Text zu seinem oder ihrem Namen verfassen. Woher er kommt, was wir damit verbinden, ob wir den Namen mögen und wenn nicht, wie wir gerne heißen würden. Es ist eine kurze Übung. Tina setzt bewusst ein Zeitlimit von 20 Minuten. So schnell realisiert der innere Kritiker nicht, dass er jetzt gefordert wäre, und damit wird er ausgetrickst. Die Teilnehmer haben die Wahl, ob sie im großen Seminar-Raum bleiben oder die Bibliothek, gleich um die Ecke, bevorzugen.
Sophia entscheidet sich klar für die zweite Option. Sie liegt – wie der Seminarraum – im ersten Obergeschoß, ist aber mit schönen alten Möbeln und Schränken eingerichtet, die Sophia an das Haus ihrer Großeltern an der Nordseeküste erinnern. Der Raum hat etwas Uriges, Gemütliches, gepaart mit zeitloser Eleganz. Anna und Joachim haben die gleiche Idee. Das passt gut, denn die Bibliothek hat sechs bequeme Lesesessel.
Sie sinkt in einen der Sessel und denkt nach. „Mag ich den Namen Sophia?“. Sie kaut mental auf dem Gedanken herum. Diese Frage hat sie sich bisher noch nie gestellt. Der Name ist schlicht ein Teil von ihr wie die braunen Augen oder die Narbe am linken Unterschenkel.
Sophias innere Kritikerin übernimmt – professionell wie immer: „Ich bin zu müde. Da kann ich keinen klaren Gedanken fassen. Mein Bauch ist zu voll, denn das Abendessen war gut und reichlich. So eine blöde Aufgabe. Bestimmt beantwortet niemand diese Frage. Was soll man auch über den eigenen Namen schreiben. Lass uns morgen weitermachen.“
Krampfhaft versucht sie, konstruktive Gedanken zu denken. Doch statt brillanter Einfälle zieht nur das lächelnde Gesicht von David an ihrem inneren Auge vorbei. Ein warmes Funkeln regt sich in ihr, aber bevor sie das gießen kann, mischt sich das Bauchgefühl schon wieder ein. Das Flirren wird abrupt verdrängt und sie ergreift eine diffuse Angst, die sie nicht zuordnen kann. Noch nicht!
Ihre Augen schauen sich prüfend im Raum um, die Ohren saugen gierig jedes leise Geräusch auf. Aus dem Augenwinkel sieht sie Bewegung im Bücherschrank. Ruckartig dreht sie den Kopf, aber nichts. Die Bücher stehen da, langweilig und eingestaubt wie immer. Oder hat sich doch eines verschoben? Ein leises Kratzen lässt ihr das Blut gefrieren: Krallen auf altem Holz. Etwas ist hier im Raum! Hinter den Schränken lauert es auf sie!
„Habt ihr das Geräusch auch gehört?“ rufe Sophia ein bisschen zu schrill. Köpfe drehen sich und schauen sie verständnislos an.
„Was für ein Geräusch?“ fragt Anna sichtlich überrascht. Sie lauscht jetzt angestrengt, empfängt aber nur Stille. „Nein, ich kann nichts hören.“, sagt sie mit einem Tonfall, der Bedauern und Verwunderung enthält.
„Ich habe auch nichts gehört.“, entschuldigt sich Joachim und beugt sich wieder über seine Kladde. Es sind immer noch 15 Minuten Zeit. Sophia wechselt den Sessel und setzt sich ans Fenster. Ihr Blick gleitet hinüber zum See und bleibt lange dort. Die Dämmerung sinkt langsam herab. Im Zwielicht sieht sie wie sich die Wellen auf dem See brechen. „Da sollten kein Wellenschlag sein, oder gibt es in dem See eine Untiefe?“ grübelt sie. „Liegt da ein fahl grünes Glühen über dem See?“ Sie hat in der Vorbereitung auf die Reise ein wenig zum Starnberger See gelesen, aber nichts zu seltsamen Vorkommnissen oder Riffen gefunden.
Ihre Gedanken werden unterbrochen, denn Tina kommt in den Raum und ruft: „Noch 5 Minuten“. Sophia schreckt auf und sammelt schnell einige Stichwörter, die ihr spontan zu ihrem Namen einfallen. Dann folgt sie Anna und Joachim zurück im Seminarraum. Dort dürfen alle vorlesen, was in der kurzen Zeit entstanden ist. Manche haben einen echt langen Text geschrieben, andere nur Gedankenfetzen zu Papier gebracht. Das macht es Sophia leichter, sich zu entschuldigen: „Mein innerer Kritiker ist noch sehr stark. Mehr als einige Stichworte habe ich nicht zusammenbekommen.“ Tina lächelt es mühelos weg. Es ist nicht das erste Mal, dass sie diesen Kurs gibt, und sie kennt die Hemmnisse der Teilnehmer.
Die anderen lesen vor, aber Sophia hört nicht zu, denn ihre Gedanken fahren unterdessen Karussell, immer schneller und schneller im Kreis herum. Diese Ahnungen, das Gefühl von Angst, warum kommt es genau jetzt und hier?
Nach dem Vorlesen ist der offizielle Teil zu Ende und die Teilnehmer verschwinden in unterschiedliche Richtungen: auf die Dachterrasse, in den Bierkeller und einige direkt in ihre Zimmer.
Sophia ist zu aufgewühlt, um jetzt schon schlafen zu gehen, obwohl sie müde genug wäre, denn die Fahrt war anstrengend. Sie folgt den anderen zur Bar und badet ihr aufgeregtes Selbst in einer großen Portion des bayrischen Gesundheitsnektars. Die Gespräche im Bierkeller gleiten vom Oberflächlichen ins Persönliche ab. Joachim erkennt in Teresa die begeisterte Dartspielerin, die neulich eine Landesmeisterschaft gewonnen hat und sogar im Fernsehen war. Ben erzählt, dass mit seinem Bruder vor zwei Jahren auf dem Mount Everest war und er darüber ein Buch schreiben will. Sophia ist in gelöster Stimmung. Sie denkt: „Das ist mal ein richtig netter Abend. So kann der Bildungsurlaub weiter gehen. Wie interessant diese Menschen sind. Sie sehen langweilig normal aus und haben doch so spannende Geschichten im Gepäck. Wie viel schlummert hinter der Fassade, bei den anderen? Und was verberge ich?“ Dieser Urlaub und die Beteiligten stecken voller Überraschungen.
Der lustige Abend im Bierkeller neigt sich seinem Ende zu. Die Hausregeln sind streng und die Gruppe macht sich auf den Weg in die Zimmer. Alle Zecher schleichen über den Hof, der Vollmond erzeugt gespenstische Schatten unter ihnen. Jetzt nach links und dann die Treppe hoch. Sophia lässt sich von der Menge leiten, denn die Wege im Kloster sind und bleiben für sie eine Herausforderung. Sie findet glücklich ihr Zimmer und verabschiedet sich von den anderen. Eine Stippvisite im Bad gehört zur Abendroutine, dann fällt sie müde ins Bett.
Die erste Nacht an einem fremden Ort ist für Sophia immer eine Qual. Die Umgebung ist ungewohnt und sie schläft nur leicht, obwohl sie genug Gesundheitsnektar getrunken hat. Die Glocken bleiben die ganze Zeit aktiv und läuten jede halbe Stunde, präzise wie ein Schweitzer-Uhrwerk. Sophia schlummert nach dem Gebimmel schnell ein, nur um bald vom nächsten wieder geweckt zu werden. In einem stillen Moment tief in der Nacht glaubt sie ein Geheul zu hören, vermischt mit dem Weinen eines Kindes. Das klingt schaurig und ihr läuft ein kalter Schauer den Rücken herunter. „Vielleicht ist es nur der Wind, der um das Gebäude streicht.“, denkt sie, dreht sich um und kuschelt sich extra dick ein.
3. Annäherungen
Wieder einmal wecken die Glocken Sophia, aber diesmal ist es draußen hell. Sie wechselt vom Halbschlaf zu einem müden wach sein. Ein Blick auf die Uhr verrät, dass es über eine Stunde dauert bis zum Frühstück. Ein einsamer Gedanke kriecht träge durch ihren ansonsten leeren Kopf: „Vielleicht bringt ein kleines Bad im See mich wieder in Schwung.“ Den See für sich allein zu haben reizt sie außerordentlich: „Dann kann ich mich auf das Wasser einlassen in meinem ganz eigenen Tempo. Ohne Zuschauer oder blöde Kommentare.“
Sie zieht ihren Badeanzug drunter und macht sich auf den Weg. Die Menschen weilen alle derzeit im Reich der Träume, aber die Vögel sind schon wach und begleiten Sophia mit ihrem speziellen Crescendo zum See. Die Luft trägt die Feuchte der Nacht vermischt mit dem Duft des Sommers. Sophia legt ihre Kleidung ordentlich auf die Bank und nähert sich dem See. Die Wellen schwappen sachte ans Ufer und flüstern ihr verführerisch zu.
Sie steigt in den See und das kühle Wasser umspielt ihre Knöchel. Die Lebensgeister kehren zu ihr zurück, sie steigen aus dem See auf, dringen durch die Füße und verteilen sich im Körper. Sophia steht da und genießt den Augenblick. Dann macht sie langsam, sehr langsam einen kleinen Schritt nach dem andern. Immer weiter in den See hinein. Bald reicht ihr das Gewässer bis zu den Knien. Mit jeder Bewegung vorwärts umfängt sie der See mehr. Die erfrischende Kühle des Wassers kriecht ihren Rücken hoch und verursacht einen wohligen Schauder. Sie lässt sich fallen, schwimmt einige Züge und denkt: „Warum habe ich nur solch eine Angst vor dem Wasser? Das Wasser ist doch Anfang und Ursprung des Lebens. Wo es kein Wasser gibt, da ist kein Leben.“
Ausgelassen dreht sie sich auf den Rücken und schaut zurück zum Ufer. Wie klein es aussieht und wie weit weg. Ihre Ausgelassenheit schlägt augenblicklich um in Panik. Der See ist zu tief, sie kann hier nicht mehr stehen. Die Lebensgeister sind verschwunden, jetzt greifen unsichtbare Klauen nach ihr und versuchen sie hinab zu ziehen. „Tief im See hausen die Ungeheuer“, das sagte ihre Oma immer wieder. Sie strampelt wild mit Armen und Beinen, dabei bekommt sie blaues Gold in die Nase und muss husten. Sie rettet sich prustend und schnaufend in die flache Zone. Mit den Füßen auf sicherem Boden atmet sie tief durch. Die Panik legt sich, aber das Erlebnis ist verdorben. Sophia flüchtet, so schnell wie, es ihr möglich ist, aus dem Quell des Lebens. Am Ufer setzt sie sich auf die Bank und verschnauft, erschöpft und voller Adrenalin. Jetzt ist sie definitiv wach.
„Warst du schon schwimmen? Das Wasser sieht herrlich aus“, sagt eine Stimme hinter ihr. Sie dreht sich um und bemerkt Daniel. Er fährt fort: „Bist du auch eine Morgenschwimmerin? Ich finde, es gibt keinen besseren Start in einen neuen Tag.“ E streift sein T-Shirt ab und stolziert in Richtung See. Sie sieht ihm nach und bewundert den knackigen Po, doch sie ist nicht in der richtigen Stimmung, um das Schauspiel angemessen zu würdigen. Trotz ihres maladen Zustands entgeht ihr nicht, dass Daniel sich bewegt wie ein Dressurpferd. Sie wundert sich: „Seltsam, er sieht aus wie ein Abenteuerer der ich am liebsten abseits bekannter Wege aufhält. Woher kommt dieser grazile Gang? Ich muss unbedingt mehr über ihn herausfinden.“
Zurück im Kloster frühstückt sie ausgiebig von allem, was gut und lecker ist. Wenig Schlaf und frühe Aufregung machen hungrig. Dazu fließt der Kaffee in Strömen. Daniel kommt nicht mehr zum Frühstück und Sophia wundert sich, was er so lange am See treibt. Dann wird es Zeit für die erste Unterrichtseinheit. Tina bringt den Tag ins Rollen mit dem Schreiben von Morgenseiten. Den Kopf frei bekommen – und vermutlich dem Kaffee eine Weile geben seine Wirkung zu entfalten und das Hirn auf Drehzahl zu bringen. Dann folgen Schreibübungen, Feedbacks und Gespräche im großen Gruppenraum, während die Sommersonne sich anschickt, den Tag in einen Backofen zu verwandeln. Sophias innerer Kritiker präsentiert sich in Hochform. Sie findet die Texte der anderen Teilnehmer deutlich faszinierender als ihre kläglichen Bemühungen.
4. Entspannung in der Natur
Die meisten Kursteilnehmer zieht es nach dem Mittagessen an den See. Das Wetter ist sonnig und warm, das kühle Wasser des Sees lockt zu einem erfrischenden Bad. Sophia packt hastig ihre Schwimmsachen ein und folge der Herde in Richtung See.
Der Weg führt genau zu einem Anlegesteg für die größeren Schiffe. Daneben ist ein flacher Einstieg, der sich ideal als Badestelle eignet und den Sophia heute Morgen benutzt hat. Dort teilt sich die Gruppe auf. Einige wenden sich nach links und wandern den See entlang. Peter und Joachim packen ihre Klamotten auf eine Bank und springen direkt hier ins Wasser. Sophia und Teresa lassen den Anlegesteg links liegen und folgen dem Weg nach rechts in Richtung Altes Bootshaus. Völlig in ihre Unterhaltung vertieft passieren sie den Kiosk mit dem Tretbootverleih. Sie laufen geschwind durch das Wäldchen voller Stechmücken und da vorne liegt es. Das Stimmengewirr der anderen Gäste weist den Weg. Dieser Ort ist ein beliebter Treff für die Mittagspause, den alle Gruppen im Kloster in hohem Grade schätzen. Jetzt gibt es kein Halten mehr. Teresa und Sophia entledigen sich im Handumdrehen ihrer Klamotten und laufen die Treppe am Bootshaus runter, direkt rein ins Wasser. Dort kann man herrlich planschen und herumalbern. Bei aller Ausgelassenheit achtet Sophia peinlich genau darauf, immer festen Boden unter den Füßen zu haben. Die Panik von heute Morgen braucht sie nicht schon wieder. Endlich sind beide gut abgekühlt und ausgetobt. Sie klettern heraus und setzen sich an den Rand des Stegs, der das Bootshaus umgibt. Die Beine baumeln lässig im Wasser und zwischen ihnen entspinnt sich ein netter Nachmittagsplausch über Sport und Reisen, den Kurs und viele anderen Themen.
Irgendwann bemerkt Sophia aus den Augenwinkeln eine Bewegung auf dem See. Sie schaut genauer hin und ihr Blick ist direkt gefangen. Daniel paddelt auf seinem Stand-up-Paddling (SuP) Board vorbei. Dabei gleicht er einer alt-römischen Statue von erhabener Schönheit und Eleganz auf dem langweiligen Sportgerät aus Industriekunststoff. So eine Pose gehört auf ein Wikinger Schiff an den Bug oder in Marmor gemeißelt in ein Museum. Gegebenenfalls in Bronze gegossen auf den Marktplatz einer Küstenstadt zu Ehren der mutigen Seefahrer.
Teresas Wortschwall verebbt, da sie merkt, dass ihre Gesprächspartnerin nicht mehr zu hört. Irritiert und belustigt schaut sie von Sophia zu Daniel und zurück. Immer hin und her. Dann beginnt sie zu kichern. Der Held auf dem Brett hat davon nichts bemerkt, wenigstens ist es ihm nicht anzusehen. Majestätisch und heroisch gleitet er vorbei auf dieser lächerlichen neumodischen Erfindung, bis er außer Sichtweite ist. Vergessen sind Sophias Gruselmomente von heute Morgen. Die Sonne scheint, der Himmel ist blau, das Leben ist schön und sie fühlt sich erneut wie in einem Rosamunde-Pilcher-Film. Bleibt die Frage, ob sie die Hauptfigur ist, für die sich zum Abschluss alles glücklich zusammenfügt.
Langsam neigt sich die Mittagspause dem Ende zu. Teresa und Sophia schlüpfen wieder in ihre leichten Sommersachen und begeben sich auf den Rückweg. Im Seminarraum erwartet sie eine Überraschung: Daniel sitzt schon da, gut gelaunt und völlig entspannt. Wie macht der das? Er ist doch am Bootshaus sogar in die falsche Richtung – genauer gesagt weg vom Kloster – gefahren. Wie kann er so schnell wieder hier sein? Sophia fasst den festen Vorsatz, diese Fragen heute Abend im Bierkeller zu klären.
Der Kurs plätschert seicht durch den Nachmittag. Tina ist perfekt vorbereitet und versucht die Teilnehmer zu ihrer jeweiligen Schreibstimme zu führen. Das macht sie mit einer geschickten Mischung aus kurzen und langen Aufgaben zu völlig verschiedenen Themen. Der innere Kritiker schweigt und staunt. Die Methode funktioniert sogar für Sophia. Die Worte fließen bereitwilliger aufs Papier und sie ist zufriedener mit dem, was sie schreibt.
Bei jeder Gelegenheit sucht sie sich einen Platz mit Blick auf den See oder verbringt Zeit in die Bibliothek. Das reduziert die Versuchung einfach nur Daniel anzuhimmeln wie ein verliebtes Schulmädchen ihren unerreichbaren Schwarm.
Beim Abendessen ist Sophia zu langsam. Der Tisch an dem Daniel sitzt, ist schon belegt. Sie setzt sich zu Anna, David und Susanne. David erzählt aufgeregt: „In der Mittagpause ging ich am See spazieren. Dabei habe ich einige Enten entdeckt und wollte mit die näher anschauen. Ich bin als vorsichtig an das Gebüsch herangeschlichen, in dem die Enten saßen. Plötzlich springt eine halbnackte Frau aus dem Busch und beschimpft mich auf das wüsteste. Sie meinte ich wäre ein Spanner, und dass ich ihr so nachstellen würde, wäre eine Frechheit. Dabei hatte ich die vorher nicht gesehen und das auch nicht vor. Ich wollte doch nur Enten beobachten.“ Er schaut so unschuldig aber getroffen, dass ihm die anderen glauben. Es war ein bizarres Missverständnis.
Sophia schielt während des Abendessens immer wieder heimlich zu Daniels Tisch hinüber. Sie ist entschlossen herauszufinden, wo er hingeht. Diesmal wird sie den richtigen Augenblick nicht verpassen. Endlich erhebt er sich und rein zufällig steht sie ebenfalls auf. Teresa sieht es und wirft ihr vielsagende Blicke zu, mit einem breiten Grinsen im Gesicht. Daniel schreitet zügig in Richtung seines Zimmers. Sophia folgt in sicherem Abstand und täuscht Interesse an den Bildern im Flur vor. Er verschwindet ohne ein weiteres Wort oder Blick zurück hinter der braunen Holztür des Raums. Sie bleibt enttäuscht und unschlüssig im Korridor stehen. Sie überlegt: „Klopfe ich bei ihm an die Tür und frag ob er mit in den Bierkeller kommt? Nein das wäre zu auffällig und zu direkt.“ Sie schüttelt den Kopf. „Wo sind wohl die anderen hin? Ich könnte mal in den Bierkeller gehen und nachschauen…“
In diesem Moment erscheint Anna und ruft ihr zu: „Sophia! Wir haben einen Sportraum mit Tischtennis und Tischkicker entdeckt. Kommst du noch mit auf eine Partie und ein oder zwei Bier?“ Diese lässt sich nicht lange bitten und begleitet Anna spontan. Dort angekommen werden sie schon Teresa, Joachim, Peter und Tina erwartet. Bei Tischfußball und Tischtennis fliegt die Zeit nur so und da Sport durstig macht fließen Gehopftes und Gebranntes in Mengen. Um 23 Uhr steht plötzlich eine Nonne erbost in der Tür und weist in überzeugenden Worten auf die Hausregeln und die Nachtruhe hin.
5. In den Mauern des Klosters
Ein ausgelassener Abend findet so ein abruptes Ende. Auf dem Weg zum Zimmer streiten sich in Sophias Bauch das dritte Bier mit den zwei Korn um den Platz im Magen und zusammen vernebelten sie ihr den Kopf. Die kleine Gesellschaft aus dem Sportraum schlurft zügig aber leise über die Wiese zum Kloster und dann den Korridor entlang, denn die erboste Nonne passt genau auf und keinen dürstet es danach sie mehr zu verärgern. Das Bier hat sich unterdessen mit dem Korn geeinigt und sie verlangen sofortige Entlassung aus dem Magen. Sophia würde sich gerne mit den anderen in Richtung Zimmer bewegen, doch der innere Druck ist stärker: „Bis zum Raum schaffe ich es nicht mehr, ohne eine tropfende Spur zu hinterlassen, aber hier war irgendwo eine Toilette“, denkt sie leicht panisch. Laut murmelt sie etwas von „Komme gleich nach“ und die Gruppe zieht weiter.
Die Schritte verhallen, jetzt ist sie allein im langen, dunklen Flur. Alle 5 Meter brennt eine einsame Kerze in einer Schale und lässt Schemen gespenstisch auf den Wänden tanzen. Das fahle Licht des Vollmondes scheint von draußen herein. Ihm gelingt mühelos das Kunststück, die Schatten weiter zu vertiefen. Die Glocken im Turm schlagen zur halben Stunde.
Sophia tastet sich langsam und vorsichtig an der Wand entlang: „Eine von den Türen sollte eine Toilette sein.“ Diese seltsame Ahnung von Gefahr, die sie bereits vor dem Kloster gespürt hatte, ist wieder da. Bis eben war es ein Rosamunde-Pilcher-Film. Kommt jetzt der Horror? Eine unerwartete Wendung wie in „From Dusk till Dawn“? Still spürt sie tief in sich hinein: Das Herz ist verzagt, der Bauch beschäftigt, der Kopf dösig aber die Ohren sind auf vollem Empfang.
War da ein Geräusch? Entsetzen kriecht ihre Wirbelsäule hoch und macht sie schlagartig nüchtern: „Wer oder was kann das sein, um diese Uhrzeit? Alle Lichter sind gelöscht, die anderen Gäste längst im Bett.“ Sophia wagt kaum zu atmen und lauscht weiterhin angestrengt: Schlurfende Schritte und ein röchelnder Atem, irgendwo im Flur hinter ihr um die Ecke herum. Woher kommt das? Hatte die Nonne die Tür zum Garten nicht fest abgeschlossen? Sie vermag es nicht zu sehen, aber hört und riecht eine Präsenz. Ein Hauch von Schlick schiebt sich durch die Flure, gepaart mit einer fischigen Note, geschwenkt in Tod und Verderben. Die leichte Panik läuft jetzt zu Hochform auf. Rot glühend sticht sie in Sophias Bauch, tobt wild und heiß darin herum und löst die Starre. Die Toilette! Nur weg aus diesem Flur.
Sie rennt auf die nächste Tür zu und reißt am Griff. Verschlossen! Noch mehr Panik. Hilfe! Mit einem Sprung ist sie bei einer weiteren Tür: Abgeschlossen! Das Schlurfen kommt näher. Scheint das Mondlicht jetzt intensiver? Das Herz schlägt ihr bis zum Hals: „Wo ist diese verdammte Toilette. Bitte!“ Der anschließende Türgriff lässt sich herunterdrücken. Egal welches Zimmer es ist, nur raus aus diesem Flur!
Sie schlüpft durch die Tür und erkennt direkt am Geruch: „Bingo! Das hier ist die Toilette!“. Die Tür zustoßen und verriegeln braucht nur eine fließende Bewegung. Sie traut sich nicht das Licht anzumachen. Flach Atmen, nur kein Lebenszeichen von sich geben und niemandem verraten, wo sie ist. Wie immer in Notsituation hilft ein Handy. Das Display ergibt eine funzelige Helligkeit. Das reicht, um die Kloschüssel zu finden und unfallfrei darauf Platz zu nehmen.
Sophia sitzt im Dunkeln und hat eine Heidenangst. Echte tiefe Angst, die sie schon lange nicht mehr gespürt hat. Das ist keine Erwachsenenangst, sondern die Sorte Furcht bei der sie sich als Kind im Bett die Decke über den Kopf gezogen, die Ohren zugehalten und auf das Beste gehofft habe. Draußen vor der Tür hört sie das Knarzen der Dielen, Fingernägel kratzten über Putz und Holz, ein heiserer Schrei in einer fremden Sprache entringt sich einer unglücklichen Kehle. Alte Erinnerungen steigen aus ihrem Unterbewusstsein auf. Da versucht etwas, mit ihr in Kontakt zu treten, was vor Langem aus ihrem Gedächtnis verbannt wurde.
Das Schlurfen entfernt sich. Die Furcht hat die Verdauungsprozesse arg beschleunigt. Gott sei Dank, sitzt Sophia schon auf der Toilette. Ihr Körper beschert ihr ein – der Situation völlig unangemessenes – Glücksgefühl. Draußen rumpelt ein Donner und Regen setzt ein. Erst leise, dann immer lauter. Der Tag war heiß und schwül gewesen und so, wie sich ihre persönliche Anspannung entladen hat, gibt sich der Himmel die größte Mühe, seine aufgestaute Energie loszuwerden. Der Gewitterregen rauscht herab, platscht an die Fenster und gurgelt durch die Dachrinnen.
„So ein Mist“ denkt sie: „Der Regen übertönte alles und ich habe keine Ahnung, ob das Wesen da draußen weg ist oder lauert. Wenn es denn überhaupt ein Wesen war und nicht nur ein Produkt meiner überreizten und in Alkohol marinierten Nerven.“
Sophia holt tief Luft, um sich zu sammeln. Auf die eine oder andere Weise muss sie es jetzt auf ihr Zimmer schaffen. Angestrengt lauscht sie, ob sie etwas hört. Da – ist das nicht das leise schlürfende Geräusch von Schritten? Sie kommen immer näher. Verhalten wimmert sie auf.
„Sophia, bist Du da?“ Das ist Annas Stimme. Erleichtert wankt die Gerufene zur Tür und steckt ihren Kopf in den Korridor. „Anna, was machst Du denn hier und erschreckst mich zu Tode!“ „Ich war schon oben am Zimmer, aber du warst nicht mehr bei uns. Da wollte ich nachsehen, wo du bleibst. Dieses Kloster ist echt verwinkelt aufgebaut. Mich hat das nicht mehr losgelassen, wie Du in der Bibliothek gefragt hast, ob wir auch etwas gehört hätte. Ich glaube, ich weiß ganz genau, was Du meinst. Ich habe mir heute Nachmittag nämlich das Kloster genau angesehen und bin aus Versehen in diesem einen Kellerraum gelandet. Und da habe ich eine starke Präsenz gefühlt. Hier sind ganz eindeutig einige Seelen unterwegs.“ Anna schaut sie beschwörend an. „Ich kann das spüren, genau wie Du. Lass‘ uns doch morgen mal etwas zur Geschichte des Klosters nachforschen und vielleicht…“ Anna zögert und kaut auf Ihrer Unterlippe, während sie Sophia verschwörerisch anblickt: „Vielleicht wäre es ja eine gute Idee, wenn wir vorschlagen würden, eine Geistergeschichte zu schreiben und zur Inspiration eine Séance abzuhalten. Wäre doch spannend, was und vor allem wer da zu Tage käme. Hm, aber ich glaube, wir bringen Dich jetzt erstmal ins Bett – Du siehst so aus, als würdest Du jeden Moment umkippen“. Sophia nickt stumm und zustimmend, zu viel ist heute auf sie eingestürmt, und dass Anna dasselbe Empfinden, wie sie hat, braucht Zeit für eine emotionale Verarbeitung. Ihr wird schwindelig und sie bekommt nur mit, dass Anna ihren Arm packt und sie stützt. Gemeinsam schaffen sie es, Sophia bis zu ihrem Zimmer und in ihr Bett zu bugsieren.
6. Neuer Tag, neues Glück
Das Glockengeläut weckt alle Gäste des Klosters Bernried. Sophia öffnet verklebte Augen und rekelt sich im Bett. Sie denkt „Es ist viel zu früh, um früh am Morgen zu sein.“ Dann schlägt der Kopfschmerz zu. Sie hat einen Kater von der Sauferei gestern und bestimmt war das letzte Bier schlecht. Eine Kopfschmerztablette und eine kalt-warme Wechseldusche später ist sie bereit für alles, was dieser dritte Tag des Bildungsurlaubs ihr bringen wird.
Die ganze Gruppe ist in der täglich gleichen Routine des Klosters angekommen. Sophia hat sich zu den anderen an den Frühstückstisch gesellt.
„Gibst Du mir bitte mal das Wasser?“ Anna sitzt ihr gegenüber und ist das blühende Leben, Sophia fühlt sich dagegen wie durch den Fleischwolf gedreht und ausgekotzt. „Tina, komm‘ setz‘ Dich zu uns – ich wollte Dich eh mal was fragen“ – energisch winkend lockt Anna jetzt die Dozentin an den Tisch. „Wir haben uns überlegt, ob eine Geistergeschichte nicht eine spannende Übung für uns wäre – in so Klöstern gibt es ja viele Geheimnisse und vielleicht inspiriert uns das hier zu einer Geschichte der weißen Nonne oder dem wandelnden Mönch oder so“. Sie kichert nervös vor sich hin. „Ja klar, gute Idee“ antwortet Tina: „Was genau schwebt Dir denn da so vor, hast Du schon eine Idee?“ Anna grinst wie ein Honigkuchenpferd – dieser Teil des Plans ist aufgegangen. „Ja, also ich dachte, vielleicht fragen wir ja mal bei den Nonnen nach, ob es denn interessante Geschichten von mysteriösen Vorfällen hier gibt – ob jemand verschwunden ist oder vielleicht sogar Todesfälle. Wer hätte denn auch noch so Lust darauf?“ Anna lässt ihren Blick über die Runde wandern: „Teresa, Ben, Susanne, Daniel – hättet ihr Lust auf einen Ausflug ins Übernatürliche? Was haltet ihr davon? Und vielleicht habt ihr auch noch eine gute Idee? So mystisch wild, was meint ihr?“. Susanne schaut zweifelnd drein: „Mystisch wild? Am Ende noch eine Séance abhalten, oder was?“ Anna klatschte begeistert in die Hände! „Was für eine fantastische Idee! Darauf wäre ich nie gekommen! Gleich heute Morgen? Das ist doch was Schönes für die Gruppe, was meint ihr?“ Das Schweigen am Tisch spricht Bände. Tina räuspert sich kurz und schlägt vor, dass nachher in der großen Runde zu besprechen. An sich wäre sie nicht der Freund des Übernatürlichen, aber man müsse der Sache aufgeschlossen sein.
Susanne sagt skeptisch: „Wenn du Inspiration brauchst, solltest du mal zum Eingang gehen. Im Zeitschriftenständer gibt es ein Heftchen zu ungeklärten Todesfällen in und um das Kloster aus den letzten Jahrhunderten.“
Anna flitzt direkt los in Richtung Pforte. Die andern beenden das leckere Frühstück und versammeln sich im Seminarraum. Tina scheint völlig unbeeindruckt von dem Gespräch am Frühstückstisch. Ein Kurstag eröffnet mit dem Schreiben von Morgenseiten, das ist und bleibt selbst heute so. Anna ignoriert die Einstiegsübung, stattdessen liest sie das Heftchen über die Todesfälle rund ums Kloster. Nach der Lektüre ist in angemessener Stimmung für etwas Mystik und Tina greift die Idee tatsächlich auf: „Heute morgen haben mich einige Teilnehmer gefragt, ob wir nicht eine Geistergeschichte schreiben können. Da ich den Vorschlägen der Kursteilnehmer offen gegenüberstehe, möchte ich die Idee in die Runde geben: Wäre das eine Inspiration für euch? Alternativ könnt ihr auch einen Text über ein Aufreger Thema schreiben“.
Aus Anna platzt es direkt heraus: „Ja unbedingt eine Geistergeschichte. In diesem Kloster sind so interessante Todesfälle passiert.“ Sie wedelt mit dem Heftchen und fährt fort: „Und zur Einstimmung machen wir eine Séance in der Bibliothek. Die hat eine starke, dunkle Aura: genau richtig für das Übernatürliche.“
Wie erwartet winkt Susanne ab: „Diesen Kinderkram könnte ihr ohne mich machen. Eine Séance am helllichten Tag macht noch weniger Sinn. Ich bin sehr entschieden für Tinas Alternativvorschlag.“
Die Diskussion läuft unstrukturiert mal in die eine, dann in die andere Richtung. Am Ende lässt Tina abstimmen. Anna und Sophia sind absolut für die Geistergeschichte, Teresa ist ebenfalls am Thema interessiert. Susanne und Joachim lehnen die Idee völlig ab. Das passt nicht in ihr rationales Weltbild. Der Rest enthält sich. Etwas unschlüssig teilt die Dozentin den Kurs in zwei Gruppen. Wer entschlossen ist, seinen Morgen im Übernatürlichen zuzubringen verschwindet in den Raum der Bücher. Die anderen verteilen sich im Seminarraum oder im Garten und schreiben über ihr persönliches Aufregerthema.
7. Die Séance
Glücklich schwebt Anna in die Bibliothek, Sophia und Teresa folgen ihr. Nach ihnen treten Daniel und Ben durch die Tür, was nicht nur Anna überraschend findet. Sophia setzt sich an den runden Tisch und überlegt, ob eine Séance in einem Rosamunde-Pilcher-Film verkommenen würde oder ob so was doch eher in einen Tatort passt. Die anderen gesellen sich zu ihr. Die Meisterin des Übernatürlichen hat die Vorbereitungen in kürzester Zeit abgeschlossen. Sie hat exakt 5 pechschwarze Kerzen im Raum aufgestellt und angezündet. Kaum sind die Vorhänge zugezogen, wird es stickig. Anna setzt sich als letzte an den Tisch und holt aus der unergründlichen Tiefe ihrer Handtasche eine Mischung aus Stofffetzen, getrockneten Blüten, Knochen und undefinierbarem Kleinkram, die sie großzügig auf dem Tisch verteilt. Die fünf Teilnehmer der Séance sitzen im drückenden Dunkel. Kerzen flackern ohne erkennbaren Luftzug unregelmäßig hin und her und tauchen den Raum in gespenstisches Licht. Die Gesichter der Menschen liegen tief im Schatten und sind kaum wahrnehmbar.
Anna sagt gebieterisch: „Schließt die Augen und fasst euch an den Händen!“ Dann stimmt sie ein Singsang an, der klingt wie ein lateinischer Choral. Sophia fühlt auf der linken Seite die entspannte und kühle Hand von Ben. Auf der rechten Seite schlottert Daniels Hand, die warm und schwitzig ist. Wahrscheinlich macht ihm der stickige Raum zu schaffen. Sie lässt ihre Gedanken treiben, ist unkonzentriert. Von Steuerbord steigt ihr ein männlich markantes Deodorant in die Nase. Ihr Kopf projiziert auf die geschlossen Augenlieder alte und neue Erinnerungen in wirrer Reihenfolge:
das Schiff ihres Vaters im Hafen.
Ihre erste Nacht unter freiem Himmel in der Wüste im Oman.
Ein lachender Opa, der die dreijährige Sophia liebevoll hochhebt.
Daniel auf seinem SUP-Board stehend.
Mama in der Küche beim Kochen.
Die Eröffnung des Tanzkurses mit … wie hieß der Kerl noch gleich?
Das gebrochene Bein vom Klettern auf den hohen Gartenbaum zu Hause.
Mit Britta nachts in der Kneipe in Frankfurt.
Endlose Minuten vergehen, dann unterbricht Anna ihren Gesang: „Ihr seid mit euren Kopf und Herz nicht bei mir. Ich kann das fühlen. Bitte konzentriert euch auf die Tischmitte und singt mit.“
Sophia ist froh, dass Anna sie aus ihren Gedanken reißt. Das war nicht angenehm. Sie schlägt die Augen auf, fixiert einen knallroten Stofffetzen auf dem Tisch und schließt sie wieder. Die Fokussierung bleibt vor ihrem inneren Auge.
Sie summt den monotonen Gesang von Anna mit und hört wie die anderen einstimmen. Die Atmosphäre verdichtet sich, die Luft wird schwer und senkt sich auf die Singenden herab. Leises Kratzen und Schaben ist zu hören. Die Wände rücken zusammen und engen den Raum weiter ein. Sophia fühlt sich zusammengepresst, wie eine Ertrinkende, die immer tiefer ins Wasser hinabsinkt und dabei dem steigenden Wasserdruck ausgesetzt wird. Unwillkürlich schnappt sie nach Luft. Ihr Mund füllt sich mit Salzwasser und die Nase erkennt das unverwechselbare Aroma von faulem See. Ohne Vorwarnung knallen die Türen der Bücherschränke auf und grausige, fahlgrüne Klauen schießen hervor und versuchen die unteren Körperteile der Teilnehmer zu erhaschen. Sophia öffnet in Panik die Augen und sieht auf dem Tisch in der Mitte ein Wirbelwind, der Blüten, Knochen und Kleinkram gepackt hat und sie wie ein Tornado im Kreis herum nach oben wirbelt. Instinktiv zieht sie die Füße an sich und kauert sich tiefer in den Sessel. Aus schreckensweiten Augen sieht sie die anderen Teilnehmer der Séance sich ebenfalls eng zusammengekauert im Sitzmöbel verkriechen. Jeder in seinem Hochlehner, treibend durch kalte Dunkelheit wie ein einsamer, hoffnungslos verlorener Schiffbrüchiger im Rettungsboot auf hoher See.
Zum Tornado mischt sich ein Rauschen und Brüllen vom See, das sich in einem kolossalen Windstoß in den Raum entlädt. Die Vorhänge flattern waagrecht unter der Zimmerdecke, die Kerzen werden von der Tafel geweht. Der kleine Wirbelsturm auf dem Tisch verschwindet mit einem „Wusch“ in Richtung See und reißt Blüten, Knochen, Kleinkram, Stickigkeit und alle Andeutungen von Monstern mit sich.
In der Bibliothek herrscht Stille. Man könnte eine Stecknadel fallen hören, aber niemand würde sich jetzt noch trauen, eine herabfallen zu lassen. Sophia starrt in leichenblasse Gesichter, die Münder und Augen weit geöffnet. Alle haben die Füße herangezogen, kauern in Embryonalstellung im Polster, die Hände so kraftvoll in die Armlehne gekrallt, dass die Fingerknöchel weiß hervortreten.
Alle? Nein, Anna sitzt völlig entspannt in ihrem Sessel mit einem glücklichen Lächeln auf dem Gesicht: „Das war wunderbar, oder? Jetzt sind wir in der richtigen Stimmung für eine Geistergeschichte.“
Ihre Glückseligkeit steht in absolutem Kontrast zum Zustand der anderen Teilnehmenden. In Zeitlupe werden Griffe gelockert, schmerzende Hände massiert und Beine zaghaft ausgestreckt. Nach längerem Warten meldet sich Ben ungläubig: „Was war das?“
Anna antwortet gut gelaunt aus ihrer Glücksblase: „Das war die beste Séance, die ich je erlebt habe. Wirklich ergreifend und eindrucksvoll.“ Das Wort „eindrucksvoll“ bekommt spärlich gemurmelte Zustimmung. Es entsteht ein Wortgeplänkel über das Passierte.
Sophia hört nicht zu, sondern hängt ihren eigenen Gedanken nach: „Gibt es eine Verbindung der Bibliothek mit dem See? Ich habe mich gleich am ersten Abend hier unwohl gefühlt, jetzt weiß ich warum. Oder bin ich die Verbindung? Diese Seegeister waren echt gruselig. Hatte Oma doch recht mit ihren ollen Sprüchen?“
Sie denkt an den Moment zurück, als sie das erste Mal vor dem Kloster stand und die Aura des Ortes spürte: „Wahrscheinlich kein Rosamunde-Pilcher-Film und auch kein Tatort, aber es könnte ein Horror Film sein. Die beginnen auch harmlos und nett und werden langsam gruseliger. Was steht mir denn noch bevor?“ Sie verdrängt diesem Gedanken und verlässt die Bibliothek. Ihre Schritte lenken sie zielsicher in den Garten, der friedlich im Sonnenschein liegt. Helles Tageslicht hilft am besten gegen die makabren Schrecken der Séance.
Unter den alten Bäumen trifft sie auf Susanne, die sie spöttisch mustert: „Was ist denn mit dir passiert. Hast du etwa einen Geist gesehen?“. Sophia ist völlig verwirrt und grübelt: „Das Fauchen des Windes auf See müssen die anderen doch auch gehört haben. Oder haben die Teilnehmer der Séance sich das nur eingebildet? Nein das kann nicht sein, dafür fühlte es sich viel zu echt an!“
Vorsichtig fragt Sophia: „War das Wetter die ganze Zeit so schön und windstill?“ Susannes Gesichtsausdruck mäandert zwischen belustigt und befremdet: „Ja natürlich. Ein Sommertag wie er im Bilderbuch steht. Kein Lüftchen trübt die Laune.“
Sophia murmelt etwas und verzieht sich auf eine Bank im Schatten alter Bäume. Ihrem verwirrten Verstand entspringt heute keinerlei Geschichte mehr. Die Zeit wälzt sich zäh durch den Garten und nach längerem Warten steht Tina am Fenster und ruft die Teilnehmenden wieder zusammen.
In der großen Runde lesen einige reale Erdenbewohner aus den Kunstwerken vor, die in der letzten Stunde entstanden sind. Sophia hört nachdenkliche und lustige Texte und so langsam verblasst die Séance in ihr, aber ein mulmiges Gefühl bleibt.
8. Im hellen Tageslicht
Im Anschluss gibt Tina das erlösende Signal und alle strömen zum Mittagessen. Die Gruppe ist so groß, dass sie drei Tische im Essenssaal belegt. Die anfängliche Scheu hielt die Teilnehmer in der Sitzordnung zusammen, wie sie am ersten Abend zufällig entstand. Jetzt ist diese Befangenheit verflogen und die Mischung der Leute wird bunter.
Bei dieser Mahlzeit gibt es nur ein Thema: Aktivitäten im und auf dem Starnberger See. Dieses Mal sitzt Daniel bei Sophia am Tisch und das ist kein Zufall. Er schwärmt vom Stand-up-Paddeling und sie von ihm. Ein Bild von einem Mann. Ein Abenteurer mit Piratenfrisur und athletischer Sportlerfigur. Wohl definierte Muskeln und kleine Lachfalten um die Augen. Sie ist entschlossen, diese Sportart auszuprobieren, und wer könnte es ihr besser zeigen? Gewiss hat er kräftige, aber sanfte Hände, in die sich Frau gut fallen lassen kann. Deutlich erinnert sich Sophia an die Szene gestern, wie Daniel am Bootshaus vorbei glitt.
Aber die alte Angst sitzt tief und die Séance hat sie wieder hervorgeholt. Sie erträgt das Wasser nur, solange ihre Füße den Boden berühren. Nicht zu weit auf den See hinaus. Auf See geschehen Unglücke! Es ist endlos lange Jahre her und sie ist nicht gewillt im Hier und Heute darüber nachdenken.
Durch Zufall sitzt Ben mit am Tisch. Bisher hat er stumm den Erzählungen über die Urlaube mit SUP auf Europas schönsten Gewässern gelauscht. Er räuspert sich und hemmt vorübergehend den Daniels Redefluss: „Ich mag die Wildnis auch, aber ohne viele Menschen. Europa ist mir zu bevölkert, deswegen mache ich jeden Sommer eine dreimonatige Auszeit in der Wildnis Kanadas. Da bewege ich mich mit Fahrrad und Kanu durch die Wildnis und sehe tagelang keinen anderen Menschen. Nur ich und die Natur. Das ist schön.“
Da haben sich zwei gesucht und gefunden. Ben und Daniel tauschen sich angeregt aus über ihre Erlebnisse in der Natur aus. Sie erörtern Details zu Paddeltechniken, Materialqualität, Ausrüstershops und Sperrgepäck bei langen Flügen.
Der Rest des Tisches ist beim Nachtisch angekommen und die beiden fachsimpeln über den Bau einer Unterkunft aus Ästen und Blättern. Sophia holt sich sogar zwei Portionen Dessert, denn es gibt Tiramisu und das ist seit Jahren ihr Lieblingsnachtisch.
Dieses Mittagessen hat sie sich komplett anders vorgestellt. Daniel wirft ihr zwar verstohlen interessierte Blicke zu, aber bleibt im Gespräch mit Ben. Sophia überlegt: „Vielleicht schaffe ich es seine Aufmerksamkeit zu bekommen, wenn ich ihn eifersüchtig mache in dem ich ein bisschen mit Ben flirte. Außerdem ist Tretboot fahren zu zweit bestimmt nicht so gefährlich wie SUP alleine.“
Laut sagt sie: „Ich habe gesehen, dass es auf dem halben Weg zum Bootshaus einen Tretbootverleih gibt. Ich würde so gerne einmal Tretboot fahren, aber alleine darf man nicht. Möchte mich jemand begleiten?“ Sie bekommt ein Kopfschütteln vom ganzen Tisch, alle haben schon Pläne für die Mittagspause. Einzig Ben überlegt etwas länger und meint dann: „Warum nicht? Tretboot fahre ich auch gerne, die Fahrrad Runde kann warten.“
Die Teilnehmer stehen vom Tisch auf und verteilen sich im Haus. Sophia und Ben huschen eiligst in die Zimmer, um sich umzuziehen und Wechselklamotten einzupacken. Keine fünf Minuten später sind die beiden auf dem Weg zum Tretbootverleih. Ben setzt das Gespräch vom Mittagessen mit Leichtigkeit fort. Er erzählt über Kanada und Kindheitserlebnisse mit dem Tretboot, Zeltlager und frühere Reisen. Er ist völlig abgetaucht in seine Geschichten und bemerkt nicht, dass Sophia längst nicht mehr zuhört. Ihre Gedanken kreisen um David: „Na das mit dem Eifersüchtig machen hat ja prima funktioniert.“ Er hat ihre Annäherungsversuche in Richtung Ben nicht mal wahrgenommen. Dabei hat sie das so laut du deutlich gedacht in ihrem Kopf.
„Wie die Tretbootfahrt wohl wird?“ Sophia erforscht ihre Gefühle und ihre Ängste, lauscht tief in sich hinein. Sie wird auf dem Wasser sein, in einer Region in der sie nicht mehr stehen kann, wenn sie vom Boot fallen sollte. Es fühlt sich falsch an, doch sie macht sich selbst Mut: „Das wird schon gut gehen. Es ist nur ein Tretboot auf dem See und nicht der Fischkutter auf dem Ozean!“
Bens Redefluss hat die beiden bis zum Anleger des Bootsverleihs geschwemmt. Dort wartet eine Enttäuschung. Der Wetterdienst hat eine Sturm- und Gewitterwarnung für den Nachmittag herausgegeben und der Tretbootverleih hat alle Schiffe fest vertäut und eine orange Warnflagge gehisst. Heute fährt niemand mehr raus.
Sophia versucht, mit der Frau an der Kasse, zu verhandeln: „Dürfen wir nicht doch vielleicht eine halbe Stunde fahren? Der Sturm kommt ja erst später und bis dahin sind wir bestimmt zurück.“ Aber die Verleiherin bleibt hart: „Nein das geht nicht. Der Wind würde euch vom Ufer wegtreiben und ihr kommt nicht mehr hier her, egal wie sehr ihr euch anstrengt. Ich kann es leider nicht erlauben. Es ist zu gefährlich.“
Sophia setzt ihren schönsten Bettelblick auf: „Wirklich nicht, wir bleiben auch nicht lange draußen, halten uns in der Nähe des Ufers, versprochen! Großes Indianerehrenwort!“
Aber selbst das stimmt die Frau am Verleih nicht um. Die beiden sind enttäuscht und überlegen, wie es jetzt weitergeht.
Sophia meint: „Ich laufe weiter bis zum Bootshaus. Ein wenig im Wasser planschen ist genau die richtige Abkühlung in dieser schwülen Hitze.“
Ben überlegt: „Nein das Planschen ist nichts für mich. Ich werde zum Kloster zurückgehen und eine Runde mit dem Fahrrad um den See fahren. Das sollte ich in der Mittagspause gut schaffen und im Schatten der Bäume ist es recht angenehm.“
Sie trennen sich. Die eine wandert in Richtung Bootshaus, während der andere im strammen Schritt zurück ins Kloster marschiert, um sich auf seinen Drahtesel zu schwingen.
Der Weg durch das Wäldchen ist heute angenehm. Ein laues Lüftchen wiegt sanft die Bäume hin und her und verscheucht die lästigen Stechmücken. Sophia nähert sich dem Bootshaus und hört schon die Stimmen bevor sie um die Ecke biegt. Eine lustige Planscherei ist im Gange und sowie es klingt, haben Teresa und Anna den meisten Spaß. Auf dem Steg angekommen, sieht sie, eine Gruppe von Frauen im See planschen. Teresa bemerkt die Neuankommende sofort und winkt ihr zu: „Sophia komm zu uns ins Wasser. Hier ist es herrlich.“ Die lässt sich nicht lange bitten und ist direkt mit dabei. Nach einer Weile schwimmt Teresa in eine etwas ruhigere Ecke und bedeutet Sophia, ihr zu folgen. Leise flüstert sie: „Was ist denn nun mit Daniel. Hat dein Plan beim Mittagessen funktioniert? Wieso bist du jetzt hier? Wolltest du nicht mit Ben Tretboot fahren um Daniel eifersüchtig zu machen?“
Sophia schüttelt traurig ihren Kopf: „Das hat alles nicht funktioniert. Daniel hat meine Versuche nicht wahrgenommen und der Tretbootverleih war geschlossen wegen Sturmwarnung.“ Sie seufzt: „So komme ich Daniel bestimmt nicht näher.“ Während sie das sagt, wächst auf Teresas Gesicht ein immer breiter werdendes Grinsen: „Abwarten! Dreh dich mal unauffällig um und schau wer da kommt.“
9. Dem Himmel so nah
Sophia dreht sich um, allmählich, wie im Traum und die Welt wird weich. Der Hintergrund verschwimmt, die Sonne versteckt sich hinter einer Wolke. Die Stimmen der Badegäste, das Singen der Vögel und das Plätschern der Wellen verklingen, als ob jemand den Lautstärkeregler an der himmlischen Stereoanlage in Zeitlupe auf leise drehen würde.
Daniel gleitet auf seinem SUP-Board heran und nimmt Kurs auf Sophia. Leichtfüßig springt er ins Wasser und kommt genau vor ihr zum Stehen. Ein feines Lächeln umspielt seine Lippen: „Wolltest du nicht Tretboot fahren? Mit dem Langweiler? Hat wohl nicht geklappt.“ Sophia vergisst zu atmen, so fasziniert ist sie. Daniel sagt: „Vielleicht kann ich dich für etwas Stand-up-Paddeling begeistern? Nach unserem Gespräch beim Mittagessen könnte das genau dein Ding sein.“
Sophia wird heiß. Wenn das hier ein Comic wäre, kämen spätestens jetzt kleine Dampfbläschen um sie herum aus dem Wasser. Sie denkt: „Dann hat er mich beim Mittagessen doch wahrgenommen und nur so getan als ob ich ihn nicht interessiere. Der Schuft!“ Innerlich jubiliert sie. Das war genau, worauf sie es abgesehen hatte. Sie senkt ihren Blick und sagt leise: „Ich weiß nicht. Das ist bestimmt schwer, oder? Bei dir sieht das so einfach aus.“ Die Kleine-Mädchen-Masche zieht immer. Männer brauchen ein Podium, auf dem sie Narrenfreiheit haben und Daniel ist keine Ausnahme. Er springt mit einem großen Hechtsprung auf die metaphorische Bühne, strahlt sie an und streckt ihr seine rechte Hand entgegen, während seine linke das Board hält. „Ich bringe es dir bei. Vertrau mir“.
Sophia nimmt einen tiefen Atemzug und greift nach seiner Hand. So weich und zuversichtlich, so kraftvoll fühlt sich sein Griff an, genau wie Papas damals. Vorsichtig setzt sie den linken Fuß auf, das Board wackelt. Dank seiner Unterstützung hält sie die Balance, gewinnt die Kraft, auch den rechten Fuß aus dem Wasser zu ziehen und hüftbreit neben den anderen zu setzen. Wie umstandslos das Stehen auf einem SUP-Board ihr gelingt überrascht sie. Dankbar, mit einer kleinen Träne im Auge erwidert sie Daniels Blick mit einem Lächeln. Eine Brise seines Eau de Toilette weht ihr in die Nase. Sie genießt den Duft der Männlichkeit und der großen Freiheit. „Kanns losgehen?“ fragt er und reicht ihr das Paddel, noch immer ihre Hand haltend. Beherzt ergreift sie es und führt das Breite Ende ins Wasser. „Na klar doch!“
Daniel lässt sie los und stößt das SUP vorsichtig vom Ufer weg. „Atmen“, denkt Sophia, „regelmäßig atmen. Aufrecht stehen. Rücken gerade, Kopf hoch. Du schaffst das.“
Das waren Mutters Worte damals, als sie nach dem Tod des Vaters wieder in die Schule gehen sollte. Sie streckt sich, zwingt sich, den Blick zu heben, auf den See hinaus zu schauen, in die Ferne. Dahin, wo die Tiefe ist…
Nein, dorthin wo das andere Ufer des Sees ist! Ist das meine Prüfung? Meine Lebensaufgabe? Nicht mehr drum herumlaufen, sondern mutig hinein und hindurch?
Kräftig stößt sie mit dem Paddel seitlich das Wasser weg, wechselt die Seite, rechts, links, rechts, links. Das SUP-Board wird flotter. Sophia fühlt sich bombig. Der Fahrtwind weht ihre Haare nach hinten. Sie ist die Göttin, aus dem Schaum geboren, an Stärke gewinnend. Erhobenen Hauptes über das Wasser gleitend. Sie paddelte immer ausgeprägter, wird schneller. Die Geschwindigkeit füttert ihren Rausch: „Ich kann alles, wenn ich will!“ Sie juchzt, sie schreit ihren Kampfschrei.
Endlich, unbesiegbar.
Die Euphorie reißt den Verstand mit sich, trägt ihre Gedanken durch die Luft in die Freiheit, derweil ihr Körper auf dem SUP-Board über den See gleitet. Wohlige Glückseligkeit fließt durch ihre Adern. „Hier läuft doch ein Rosamunde-Pilcher-Film.“, jauchzt sie überschwänglich. Sie kostet das Hochgefühl voll aus. So herrlich lebendig hat sie sich bis heute nicht gefühlt. „Gleich drehe ich um und lasse mich in Daniels Arme fallen.“, frohlockt sie: „Und nachher im Klosterkeller verdrehe ich ihm endgültig den Kopf!“ An diesem Tag ist alles möglich.
Die Hölle ruft
Ein kalter Windstoß fährt ihr in den Rücken und bringt sie in die Wirklichkeit zurück. Die Härchen an ihren Armen stellen sich auf und sie fröstelt. Im Wind nimmt sie andere Töne wahr, leise in der Ferne. Ein Schreien und Rufen schwingt mit in der Brise, aber es ist kein Juchzen, sondern Worte der Angst und Sorge. Sophia wendet sich um und eine eiskalte Hand greift nach ihrem Herzen und drückt es zusammen. Das Ufer liegt weit hinter ihr. Die Freunde sind klein, kaum zu erkennen und nicht zu verstehen. Der Wind hat aufgefrischt, der See hat sich bleigrau gefärbt und kabbelige Wellen laufen auf sie zu. Der angekündigte Sturm ist früher gekommen als geplant und sie ist mitten drin.
Sophia ist in Panik. „Wie konnte ich es soweit kommen lassen? Ich muss zurück, dringend zurück! So schnell wie möglich.“
Sie versucht das Board zu wenden und kommt dabei quer zu den Wellen. Der Wind peitscht ihr ins Gesicht. In diesem Moment hebt eine Welle das Board hoch und Sophia verliert das Gleichgewicht. Das Wasser ist eiskalt. Sie erstarrt, ist vollständig paralysiert und sinkt reglos in die Tiefe. Von unten greifen graue Hände nach ihr, halten sie fest, liebkosen sie und werden sie nie wieder loslassen. Sophias Geist hat sich aus dem Körper gelöst und schwebt über den Wassern. Sieht zu, wie der Leib versinkt: „Das war es jetzt also!“, denkt sie seltsam entrückt. Es ist Gewissheit aber ohne Schmerz. Sie wird so Enden wie ihr Vater, in Gestalt eines Wassergeistes in den Tiefen der See, immer auf der Jagd nach der nächsten unschuldigen Seele. Es ist Schicksal, lange vorgezeichnet in dunklen, kohlraben-schwarzen Linien im Buch der Zeit.
Sophia spürt einen Zug an ihrem Fuß. Ein Funken Hoffnung glüht in ihr auf. Sie ist fest mit der Sicherungsleine mit dem Board verbunden. Daniel hatte darauf bestanden, die Leine zu an ihr Bei zu schnallen und den Sitz überprüft. Sie hatte ihn dafür ausgelacht. Es scheint Ewigkeiten her zu sein, fast wie in einem anderen Leben. Der Geist mag über den Wassern schweben, aber der Körper hat einen klaren Überlebenswillen. Sie strampelt mit den Beinen und rudert mit den Armen. Sie schafft es wieder an die Wasseroberfläche und krallt sich mit aller Kraft am Sportgerät fest.
Atmen, immer weiter Atmen!
Eine Welle bricht über ihr, nimmt ihr erneut den Atem und spült sie fast von ihrem Behelfsfloß hinunter. Nur mit letzter Kraft hält sie sich oben. Mit eiskalten Fingern und steifen Armen zieht sie sich langsam und mühevoll aus dem Wasser aufs Board. Das Paddel hat sie schon vor einer Weile verloren. Jetzt ist es kein fröhliches Stand-up-Paddeling mehr, sondern nackte Angst in einem dünnen, schwarzen Badeanzug auf einem zu kleinen Plastikbrett in einem zu großen See.
Donner grollt über den See und Blitze zucken. Aus dem harmlosen Lüftchen ist ein ausgewachsenes Sommergewitter erwachsen. Aus den dunklen Wolken ergießt sich ein Schauer auf den See. Jeder Tropfen der Sophia trifft, ist wie ein Nadelstich auf ihrer Haut. Der Wind türmt weiterhin höhere Wellen auf. Sie liegt flach auf dem Brett und krallt sich mit Händen, Füßen, der Nase und den Ohren fest. Sie hat keine Kraft für ein Stand-up, wenig Initiative, die Energie reicht knapp fürs Überleben. Von unten fühlt sie die grauen Klauen nach ihr greifen. Die Wassergeister sind nicht bereit ihre Beute widerspruchslos ziehen zu lassen.
Bei einem Raumschiff wäre das die Situation, in der der Kapitän befiehlt: „Alle Schutzschilde hoch!“ Leider ist ein dünner Badeanzug ein miserabler Schutz. Sophia muss an ihren Vater denken. Er war ebenfalls ein Kapitän und er hatte – wie sie jetzt – keine Schutzschilde, kein schickes, futuristisches Raumschiff, sondern nur seinen Kutter. Der Skipper geht mit seinem Schiff unter – so ist die alte Seemannsregel. Sophia hat sie nie verstanden. Das eigene Leben opfern nur wegen der Ehre? Das ist Heldentum am falschen Platz. Oder ist es echte Not, wenn man mit seinem Boot untergeht? Weil es keinen anderen Ausweg gibt?
Die nächste große Welle überrollt das Board und dreht es auf die Rückseite. Sophia wird abermals ins kalte Wasser geworfen. Sofort ist sie umringt von Wassergeistern. Sie erkennt verschwommene Fratzen, die breit grinsen und faulige Zähne zeigen. Das Kichern der Geister klingt unangenehm schrill in ihren Ohren. Die Klauen der Erscheinungen greifen nach ihr. Schneller und deutlicher als beim ersten Mal. Die Dämonen laben sich ausgiebig an ihrer Angst und Körperwärme.
Sophia schreit. Sie verflucht die Schemen, kreischt ihren Frust heraus, lässt ihren Lebenswillen mit der Luft gurgelnd nach oben entweichen.
Der Sturm weiß nichts von den Wassergeistern. Er wütet, weil das Gewitter ihn dazu zwingt, aber er urteilt nicht. Eine neue Welle dreht das Board erneut herum und befördert Sophia wieder ins Diesseits.
Atmen, immer weiter Atmen!
Sophia liegt kraftlos auf dem Board und kühlt aus. Der Regen rieselt in Rinnsalen an ihr herab, vermischt sich mit dem Wasser des Sees. In Gedanken kehrt sie zu ihrem Vater zurück. Ob er sich genau so gefühlt hat. Das sichere Wissen, dass es hier und heute zu Ende gehen wird. Man es nicht drauf hat, der See wieder ein Schnippchen zu schlagen, wie so oft zuvor.
Sophia verspürt keine Todesangst, nur eine bleierne Schwere. „So fühlt sich das Ende an“, denkt sie apathisch. Ihre Welt besteht nur aus Regen, Wellen, Wasser und Wind. Ein langweiliges Stück buntes Plastik bewahrt sie davor auf den Grund des Sees zu sinken, um sich dort in Millionen von Jahren in Erdöl zu verwandeln.
Eher am Rande nimmt sie wahr, wie die Wellen kleiner werden. Der Sturm hat sich ausgetobt, er hat im selben Maße seine Mächtigkeit verloren, wie Sophia die Kräfte geschwunden sind.
Plötzlich knirscht es unter ihr. Irritiert schaut sie hoch und stellt fest, dass sie am Ufer ist. Der Wind hat sie einmal über den ganzen See geblasen und sie ist weiterhin am Leben.
Sie liegt flach auf dem Board und atmet langsam ein und aus. Die Gedanken fließen träge durch ihren Kopf: „War das schon ihre große Prüfung? Den See direkt überqueren, anstatt immer drumherum zu laufen? Habe ich die Prüfung bestanden? Wenn ja, was bringt es eine Prüfung zu bestehen, wenn man niemandem davon erzählen kann, weil man zu schwach ist für den Heimweg.“
Sie sortiert sich in unendlicher Langsamkeit, bewegt zaghaft die Finger – einen nach dem anderen, dann die Arme. Sie lässt die Füße kreisen und wackelt mit den Zehen. Alles ist an ihr dran und nichts ist abgefroren. In Zeitlupe dreht sie sich um und setzt sich auf. Die Beine tauchen ins Wasser und fühlen glitschige Steine unter sich. Schlüpfrige runde Kiesel und Algen. Das ist alles. Keine Geisterhände, keine unheimlichen Umklammerungen, nichts Übernatürliches.
Sophia wundert sich: „Gab es die Seegeister wirklich? Waren sie Produkt ihrer überreizten Sinne? Oder trauen sie sich einfach nicht ins flache Wasser?“ Sie ist nicht scharf darauf, es herauszufinden.
11. Bestanden!
„Na wenn das mal nicht die Sophia ist!“ tönt es vom Rand des Sees. Die Angesprochene erwacht aus ihrer Trance und dreht sich ruckartig zum Ufer um. Da steht Ben im Regenponcho mit einem halb belustigten und halb besorgten Gesichtsausdruck: „Mädel was hat dich denn geritten bei dem Wetter über den See zu fahren?“
Sophia ist völlig perplex: „Was… wie… warum…“, stottert sie verwirrt. „Wie kommst du hier her?“, schafft sie letztlich als zusammenhängende Frage zu formulieren.
Er grinst weiterhin: „Ich wollte – wie angekündigt – etwas Fahrrad fahren und war schon halb um den See herum, als mich das Unwetter einholte. Ich habe in einer Hütte Schutz gesucht. Dabei habe etwas Buntes auf dem See gesehen. Ich war neugierig was da Seltsames auf dem See treibt bei diesem Wetter, vielleicht hat sich ein Tretboot losgerissen. Mit dir hätte ich am allerwenigsten gerechnet.“
Ein Schüttelfrost erfasst Sophia. Sie zittert am ganzen Leib. Leise fragt sie: „Was machen wir denn jetzt? Hast du ein Handy dabei mit dem du Hilfe holen kannst?“
Im Angesicht der aktuellen Notlage verwandelt sich Ben augenblicklich in den personifizierten guten Samariter: „Ja ich habe ein Handy, aber das würde wahrscheinlich zu lange dauern, bis jemand kommt. Aber ich habe etwas viel Besseres: In meinem Fahrrad Anhänger ist eine warme Decke in die dich einkuscheln kannst. Aus dem SuP Board können wir die Luft herauslassen, es auf den Anhänger binden und dich oben drauf setzen. So bekommen wir dich im Nullkommanichts wieder zurück ins Kloster.“
Sophia ist zu entkräftet, um zu widersprechen oder um sich zu wundern, warum Ben einen Anhänger an seinem Fahrrad hat und so wird der Plan in die Tat umgesetzt. Gemeinsam hieven sie das Sportgerät aus dem Wasser. Sophia kuschelt sich in die Decke, während er die Luft aus dem Board lässt und es fachmännisch auf dem Wagen verstaut. Sie nimmt samt Decke darauf Platz. Überraschenderweise ist es deutlich bequemer als erwartet.
Ben tritt kräftig in die Pedale seines E-Bikes und der Motor hilft dabei. Die beiden radeln über Feld- und Wanderwege und die Passagierin im Hänger wird nur so viel durchschüttelt, wie unbedingt notwendig. Eine halbe Stunde später sind sie wieder im Kloster, wo sie von allen andern mit einem großen Hallo begrüßt werden. Der ganze Kurs war in Sorge um Sophia, nachdem Teresa die schlechte Nachricht vom Bootshaus mitgebracht hatte.
12. Was bleibt
Zurück in Frankfurt wird Sophia von einer tiefen Unruhe erfasst. Verzehrte Bilder von den sanften Wogen des Sees vermischen sich mit dem Peitschen des Sturmes. Und immer wieder das Board, das sie trägt. Sie zieht das SUP hinter der Couch im Wohnzimmer hervor. Daniel hat es ihr geschenkt, als Talisman und Glücksbringer. Wenn sie nachts erneut von erstickenden Albträumen aus dem Schlaf gerissen wird und eisige Krallen nach ihr greifen, umklammert sie das kühle Brett ängstlich im Halbschlaf. In so mancher Dunkelheit kommt sie erst wieder zur Ruhe, wann immer sie sich mit Kissen und Bettdecke auf ihm niederlässt und vorsichtig mit ihren Fingern über die raue Oberfläche streicht. In stundenlangen Spaziergängen läuft sie das Main-Ufer ab, bis sie auf einen SUP-Verleih direkt am Fluss stößt. Zurück auf dem kühlen Nass fühlt sie sich zum ersten Mal wieder frei und das Leben scheint dann auf den sicheren Bahnen des Wassers zu verlaufen. Das SUP-Fahren gibt ihr das Feeling von Ruhe und Kontrolle.
Wenn sie jetzt nachts aufwacht, greift sie zum Stift und schreibt. Sie bringt alles zu Papier, was sie bedrückt, was sie quält, was sie denkt und fühlt. Die Gedanken und Gefühle werden aufgezeichnet und dann kehrt sie entspannt in ihr Bett zurück und schläft bis zum nächsten Morgen durch. Schon bald entdeckt sie zusätzlich den breiten Rhein auf ihren Ausflügen. Auf schnurgerade gezogenen Kanälen erschließen sich ihr schier endlose Weiten. Räume der Möglichkeiten. Zu guter Letzt plant sie, den großen Strom vollständig mit dem SUP zu bezwingen. Von der Quelle bis zur Mündung. Um endlich abzuschließen und die alten Ängste und Dämonen hinter sich zu lassen.
Epilog: Ein Jahr später
Sophia sitzt abgeklärt auf einer Bank am Ufer. Ihr diesjähriger Bildungsurlaub hat sie wieder an den Starnberger See geführt. Sie hat sich dieses Mal für einen Segelkurs angemeldet. Andächtig ruht ihr Blick auf den sanften Wogen der Wasseroberfläche. Ein leichter Windzug streift ihr Gesicht. Ihre Hände zittern unmerklich.
In ihrer Tasche umkrallen ihre Finger einen alten Zeitungsartikel aus dem vorigen Sommer. Er handelt vom plötzlichen, mysteriösen Tod eines jungen SUP-Paddlers auf ebendiesem See während eines schlimmen Unwetters.
Sophia hat in der Zwischenzeit ein Taschenbuch geschrieben, indem sie all ihre Gedanken, Erinnerungen und Gefühle zu verarbeiten versucht hat. Ein Exemplar trägt sie immer bei sich. Aus einer Laune heraus schlägt sie es auf und blättert lustlos darin herum. Mit einem Seufzen schließt sie das Buch wieder sorgfältig und zuckt dabei unwillkürlich zusammen. Sie entdeckt einen farbigen Tropfen zwischen den Zeilen.
Blutrot.
Und er scheint frisch zu sein.
Also so eine atemberaubende von mehreren Spannungsfeldern durchzogene Geschichte hab ich ja schon ewig nicht mehr gelesen. Sehr Realiätsnah vor allem sind die Gedanken und Gefühle der Protagonistin im Auge der Lesewelle. Natürlich auch die Beschreibung und das Verhalten der anderen Kursteilnehmer.
Womit ich gar nicht gerechnet habe, dass zum Ende hin sogar noch Vergangenheitsbewältigung ihr den Erfolg bereitet. Den Einzug der alten Geister hat man von Beginn an der Geschichte keinesfalls auf bereits geschehene Erlebnisse bezogen, von daher fand ich diesen wichtigen, in 1000den von Menschenleben vorkommenden Aspekt sehr geschickt und geheimnisvoll eingewebt. Was mir mit am besten gefallen hat, dass sich der Leser nie sicher sein könnte, was als nächstes passieren wird, was das Spannungsfeld der Lesebereitschaft unheimlich erhöht hat. Auch wenn ich 4 Etappen Zeit gebraucht habe um sie zu Ende zu lesen, bin ich schwer begeistert worden. Im wahrsten Sinne des Wortes. Ich bedanke mich für soviel Phantasie, Geschick und Feingefühl on Block in Schwarz auf Weiß.