Ich sitze in einer Gemäldegalerie. Tote Gesichter starren leblos aus alten Gemälden auf mich herab. Das ist langweilig, obwohl sie von Meisterhand gemalt wurden.
Viel spannender sind die lebenden Gesichter, die durch die Galerie streifen auf der Suche nach Zerstreuung und Erkenntnis.
Das Pärchengesicht taucht immer zu zweit auf. Eine Hälfte leuchtet, ist beseelt von dem Wunsch diese Kostbarkeiten zu sehen und das Wissen, die Freude und die Erregung darüber weiterzugeben. Diese Hälfte würde am liebsten jeden Tag in eine Galerie gehen, lebt hier so richtig auf, kann sich nicht satt sehen. Die zweite Hälfte schaut so mittel interessiert zu, hat bereits vergessen was im letzten Saal war und wünscht sich ein kaltes Getränk und einen Stuhl. Sie ist aus Liebe, Freundschaft oder gutem Willen mitgekommen und brummt zustimmende Laute, um den Aufenthalt angenehm zu gestalten.
Zwischen den ganzen Pärchengesichtern findet sich immer das sehr rare Exemplar des wahren Kennergesichts. Es kommt nur für exakt ein Bild hier her und weiß genau, wo die Lichtschranken der Alarmanlage liegen. Es kennt auch jedes uniformierte Aufsehergesicht beim Namen, denn es ist oft hier. Dieses Gesicht würde sich am liebsten an das Gemälde schmiegen, der Leinwand ganz nahe sein und hofft ein wenig von dem Genie des alten Meisters färbt ab.
Während das Kennergesicht noch in Farbe und Öl schwelgt stürmt eine Gruppe Touristengesichter den Raum. Sie haben „Europa in 3 Tagen“ gebucht, wissen weder wo sie sind noch warum sie hier sind, aber es war Teil das Programms, da wird es schon wichtig sein. Leider erkennt man die Touristengesichter nicht gut, denn sie sind verborgen hinter teuren Kameras oder billigen Handys und fotografieren dauerhaft und ausdauernd alles und jeden. Denn gleich geht es weiter zum nächsten Hotspot und so viele Eindrücke kann sich kein Gesicht dauerhaft merken. Aber die Reise war teuer und durch die vielen Fotos kann man wenigsten zu Hause in Ruhe ansehen was man vor Ort nicht genießen konnte.
Die Touristengesichter wirbeln vorbei, hinterlassen einen schalen Geruch aber keinen bleibenden Eindruck und geben den Platz frei für ein Gesicht mit Bart und Hornbrille, eingerahmt von exakt geschnittenen braunen Haaren. Ein ebenso exakter Seitenscheitel unterstreicht die Ernsthaftigkeit, die das Gesicht ausstrahlt.
Diesem Lehrergesicht folgen die Strebergesichter. Fünf bis sechs Kindergesichter ganz in Wissbegierde und gespannte Erwartung gehüllt, saugen sie jedes Wort auf, dass dem Lehrergesicht entfleucht.
Gemäß dem alten Naturgesetz für Gruppenausflüge folgt eine große Anzahl an Mitläufergesichtern. Die Themen kreisen um das neueste Social Media Video, körperliche Bedürfnisse, seelische Animositäten, Klassentratsch und das aktuelle Beziehungsgeflecht. Möglicherweise schnappen sie Fetzen von dem auf, was als endloser Strom aus dem Lehrergesicht quillt und sonst einfach unbeachtet zu Boden sinken würde.
Ganz hinten folgen einige eher ausdruckslose Gesichter mit leerem Blick. Die Gedanken hinter den Gesichtern werden bestimmt von dem, was große OverEar Kopfhörer in Disco Lautstärke ins Hirn blasen. Die dazugehörigen Körper werden lustlos und betont träge durch die Galerie geschleift, gehüllt in einen Stoff der für einen einzigen Zweck geschaffen wurde: Versinken in der Wohnzimmer Couch.
Komplettiert wird die Gruppe durch ein zweites Lehrergesicht, diesmal weiblicher Natur. Eine gute Seele die alle Kinder mag, Vertrauenslehrerin ist, natürlich jeden Ausflug begleitet und immer ein offenes Ohr hat für die Sorgen und Nöte der Kinder. In ihren Augen steht der Wunsch nach einem großen Kaffee und einer Peitsche für die Trödler.
Der Höhepunkt nähert sich in einer fast heiligen Prozession. Das ältere Gesicht vorne, bringt schütteres, wirres Haar mit sich, gepaart mit einem Gesichtsausdruck weltlicher Entrücktheit. Diesem Professorengesicht folgen die Studentengesichter. Die Streber aus der Schule sind älter und reifer geworden. Das Kunststudium hat sie zusammengebracht und ihr Professor hier her: An diesen heiligen Ort der Halbgötter unter den Malern. Das leicht wirre, aber sehr lebendige Professorengesicht steht vor einem toten, gemalten Gesicht und beide blicken auf die Studentengesichter herab die im Halbkreis vor dem Gemälde auf dem Boden sitzen. Ihre Blicke sind andächtig erhoben. Aus dem Professorengesicht quillt die Predigt, gleichsam ein Monolog in verschiedenen Farben aufgelöst in Öl, eine schier endlose Aneinanderreihung von Lobpreisungen, Fakten und Abschweifungen. Die Predigt legt sich auf die Haut der Studenten und bildet dort einen schimmernden Ölfilm. Moderne Kunst kommt heutzutage so vielfältig daher.
Aus der Masse an fremden Gesichtern sticht plötzlich ein mir bekanntes Gesicht hervor. Es ist der Anlass für meine Anwesenheit und denkt mir wäre langweilig weil ich mit toten Gesichtern nichts anfangen kann.
Willkommen in der National Gallery, London