Die Gesichter sind alle auf ihrem Platz, ordentlich in einer Reihe aufgereiht, wie in einer Galerie. Sie könnten gemalt sein, so bewegungslos schauen sie in den überdachten Innenhof. Die Sonne scheint hell durch das Glasdach auf ein tropisches Scenario. Das Licht in den Augen ist fast erloschen.
Die Gesichter sind nicht gemalt aber gezeichnet. Viele Ereignisse aus einem langen Leben haben ihre Narben und Fältchen hinterlassen: Glück und Unglück, Momente der Ekstase, Entbehrungen und Not im Krieg, die Geburt der Enkelkinder, das Sterben der Schwester.
Die Tage hier im Endlager ziehen gleichförmig vorbei. Es gibt keine Überraschungen mehr. Manchmal verschwindet ein Gesicht in das ewige Jenseits, manchmal kommt eines dazu. Die Gesichter aus der Galerie merken es nicht oder vergessen es sofort wieder.
Drei Mal am Tag kommen muntere Gesichter dazu. Aus dem Mund dieser Gesichter kommen aufmunternde und tröstende Worte in 12 verschiedenen Sprachen. Ein rundes Gesicht mit dunklen Locken schnappt sich das erste Gesicht der Galerie. Ein streng wirkendes Gesicht mit grauen Haaren und einem eisenharten Dutt holt das zweite Gesicht. Ein junges Gesicht mit viel Lidschatten, eingerahmt von blonden Locken holt das dritte Gesicht. So geht es weiter, die Galerie umgruppiert. Es ist Fütterungszeit im zweiten Stock. Nach einer Stunde sind alle Gesichter der Galerie wieder an ihrer Stelle.
Manchmal erzählen die Gesichter von draußen, als sie noch in der echten Welt unter freiem Himmel lebten. Alte Erinnerungen sitzen tief und fest. Sie erzählen jeden Tag die gleiche Geschichte und niemanden stört es. Die Köpfe hinter den Gesichtern erinnern sich nicht an gestern. So bleiben Geschichten immer neu, frisch und klar. Auch wenn sie schon vor 50 Jahren passiert sind.
Plötzlich ändert sich alles. Ein junges, frisches Kindergesicht wirbelt an der Galerie der Monotonie vorbei. Es gehört zu einem 4-jährigen Jungen, der Vater folgt in leichtem Abstand.
In die Gesichter der Galerie kommt Bewegung. Ein Kind bedeutet Leben und Aufregung. Das Licht in den Augen glimmt hell und heller. Kommt es wirklich von innen oder zeigen die Augen ein Spiegelbild der kindlichen Energie? Alte Hände suchen in den Taschen ob sie ein Bonbon dabeihaben. Die eigene Gebrechlichkeit ist vergessen. Für Enkel oder Urenkel sorgen, das ist fast ein Instinkt, eine natürliche Reaktion.
Das Kind und sein Vater ziehen weiter. Die Oma die sie besuchen wollen, gehört noch nicht zur Galerie. Das Leben zieht weiter, die Gesichter erstarren wieder. Sie sind nicht gemalt aber gezeichnet.
Willkommen im Altersheim: Sie sind nur Besucher und dürfen das Haus auf eigenen Beinen wieder verlassen.